Das Original minimalinvasiv genießen

Herdanziehung Veganes Essen ist auf dem Vormarsch, stößt aber oft auch auf Unverständnis. Wer sich dieses kulinarische Feld erschließen möchte, sollte auf Imitate verzichten. Der wahre Genuss liegt im Naturprodukt und in sanfter Zubereitung

Auch überzeugte Karnivoren kann man mit frischem Gemüse überzeugen Foto: Lohfink/plainpicture

Von Denny Carl

Vor einigen Wochen durfte ich der Inauguration einer neuen Produktpalette im benachbarten Supermarkt beiwohnen. Ich passierte gerade die Brutkästen der hauseigenen Aufbäckerei und arbeitete mich wie üblich ergebnislos an deren Losung „Die neue Backtradition“ ab, als eine schrille Stimme anhub. „Wozu nun auch noch dieses ganze vegane Zeug?“, schimpfte eine zur Hälfte im Kühlregal steckende Auspackerin lautstark. „Wo wir eh schon keinen Platz haben“, pflichtete ihr eine Kollegin bei, die gerade irgendwo in der Ferne bei der H-Milch oder in einer anderen Filiale tätig war. „Schlimm genug, dass diese Vegetarier meinem Essen das Futter wegessen!“, fuhr die gekühlte Gesprächspartnerin fort und wuchtete weitere Kartons in die beengte Auslage.

Diesen seelischen und körperlichen Stress hätte man ihr ersparen sollen. Denn was da nun lag, war Lebensmittel-Karaoke: veganer Käse, der den einst skandalisierten Ana­log­käse endlich rehabilitierte, und genormte Fleischgeschmack-Imitate. Mortadella, Bratwurst, Frikadellen, hühnchenfreies Hühnchenfleisch. Dass bei Letzterem nicht noch Plastikknochen eingearbeitet waren, erschien mir inkonsequent. Kulinarische Fleischfreunde werden mit solchen Produkten sicher nicht zu einem Exkurs animiert. Wozu auch etwas nachahmen, wo doch das vegane Original selbst schon so überzeugen kann? Gerade der Spätsommer zeigt mit einer farbenfrohen Vielfalt, wie lecker das Naturprodukt Gemüse sein kann. Kürzlich öffnete ich ein kleines Päckchen aus Alufolie, das zuvor eine Viertelstunde auf dem Grill verbrachte und Aubergine, Tomate, Zucchini, Champignons, Rosmarin und Olivenöl in sich barg. So deliziös wie einfach. Und ganz ohne Geschmacksverstärker – von dem milden Abend und den netten Menschen um mich herum mal abgesehen.

Einer von ihnen war Italiener. Wir kamen schnell auf das Thema Essen zu sprechen. Als er bekannte, schon lange überzeugter Veganer zu sein, kam mein Klischee ins Straucheln. Ich fragte ihn, ob er als Veganer nicht vieles der Cucina Italiana verpassen würde. Es folgte eine Reise durch die Regionen Italiens und die Erkenntnis, dass Fleisch dort nicht immer so wichtig ist, wie Speisekarten hiesiger Ristorantes erahnen lassen. Ein Rezept für Pasta mit einer Sugo aus Paprika, Tomaten und Aubergine – oh, scusi! – Melanzane war ebenso dabei wie der Tipp, Crêpes mit eingeweichten Leinsamen statt Eiern zuzubereiten.

Einem so „eingefleischten“ Veganer danach noch etwas Neues erzählen zu können beseelte mich ungemein. Es ging um ein veganes Fastfood: Eine mittelgroße, ungeschälte Avocado wird halbiert. Die gepfefferten und gesalzenen Innenseiten drückt man fest in gemahlene Mandeln. Mit den Schnittflächen nach unten kommen die Avocadohälften bei mittlerer Hitze in eine beschichtete Pfanne ohne Öl. Nach drei Minuten kann die kleine Köstlichkeit direkt aus der Schale gelöffelt werden. Ein Tomatensalat mit ordentlich Petersilie passt gut dazu.

Fastfood? Superfood? Kommt ganz drauf an, was man daraus macht!

Das Ergebnis ist auch noch sehr gesund, denn es besteht fast nur aus sogenannten Superfoods. Nicht nur Avocados, Mandeln, Tomaten und Petersilie ziert das hippe Buzzword. Auch Brokkoli, Spinat, Shitake-Pilze, viele einheimische und exotische Beeren, Trauben- und Kürbiskerne und so ziemlich alles, was einen grünen Smoothie grün macht, gehören dazu.

Hinter dem Marketing-Zinnober steckt eine begrüßenswerte Idee, die im Kontrast zum Pseudofleisch aus dem Labor steht: Ein Superfood ist ein möglichst unverändertes Naturprodukt, das dank vieler Vitamine, Mineralien, sekundärer Pflanzenstoffe oder anderer positiver Eigenschaften einen wichtigen Beitrag zur Ernährung leistet. Einigen Superfoods werden auch Heilkräfte bis hin zur Krebstherapie zugesprochen, doch mangelt es an Belegen.

Meinem Supermarkt scheint es derweil an der eingangs zitierten Mitarbeiterin zu mangeln. Ich habe sie lange nicht gesehen. War etwa das neue Superfoods-Regal mit Chia-Samen und getrockneten Goji-Beeren doch zu viel für ihre karnivore Psyche?