Das kleine Rädchen in der Maschine

NEUBEWERTUNG Der Lüneburger Auschwitz-Prozess hat erst jetzt stattgefunden, weil die Justiz allzu lange der Logik der Arbeitsteilung der Nationalsozialisten gefolgt war

Im provisorischen Gerichtsaal in der Ritterakademie herrschte angespannte Stille. Sitzend durfte der hoch betagte Angeklagte Oskar Gröning sich das Urteil des Landgerichts Lüneburg anhören. Der vorsitzende Richter Franz Kompisch wusste, dass in diesem Frühsommer nicht allein der ehemalige SS-Unterscharführer wegen Beihilfe zum Mord in 30.000 Fällen in Auschwitz vor Gericht stand. Er urteilte auch über die deutsche Rechtsprechung.

„Sie haben sich als ‚kleines Rädchen‘ in Auschwitz bezeichnet“, griff Kompisch eine Aussage des 94-jährigen Angeklagten auf. „Was Sie, Herr Gröning, als moralische Schuld ansehen, als Rad im Getriebe darstellen, ist genau das, was der Gesetzgeber als Beihilfe ansieht: das Fördern der Haupttat.“ Er zitierte den Nebenklagevertreter Cornelius Nestler: „Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte. Auschwitz war eine insgesamt auf die Tötung von Menschen ausgerichtete Maschinerie.“

Auschwitz – ein Ort, an dem man nicht „im Dienst“ sein durfte? Eine Maschinerie, in der jedes noch so „kleine Rad“ das große Schwungrad der Vernichtung erst laufen ließ? Deutsche Gerichte hatten das jahrzehntelang ganz anders gesehen. Gröning wäre wie viele SS-Männer für seinen Dienst in der Häftlingsgeldverwaltung nicht angeklagt, geschweige denn verurteilt worden.

Kompisch legte nahe, dass die deutsche Justiz dem nationalsozialistischen Konzept von Auschwitz gefolgt war: Mit der Arbeitsteilung sollte das Wegschieben der Verantwortung erleichtert werden: „Niemand sollte für alles verantwortlich sein.“ Die SS hatte diese „Zerstückelung des Tötungsvorgangs“ geplant, damit alle sich einreden konnten, „nicht direkt zu töten“.

Dieser Atomisierung der Vernichtungsmaschinerie, so Kompisch, folgte die Justiz in NS-Verfahren nach den ersten Prozessen in den 60er-Jahren, indem sie nur jene für schuldig befand, denen eine konkrete und direkte Beteiligung an Mordhandlungen nachgewiesen wurde. Auschwitz als auf die Tötung von Menschen ausgerichtete Maschinerie wurde als Bewertungsgrundlage nicht genutzt. Die Folge: Es kam kaum zu Anklagen.

Das änderte sich erst mit dem Münchner Prozess gegen den KZ-Aufseher John Demjanjuk, der 2011 auch ohne individuellen Tatnachweis zu vier Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord verurteilt wurde. „Im Zuge der Bearbeitung des Falles Demjan­juk hat die Zentrale Stelle die Beihilfe zum Mord im Konzentrationslager Auschwitz neu definiert“, erklärt Kurt Schrimm, Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. ANDREAS SPEIT