Drei Farben Blau

LICHTSTUDIE Coole Leute gegen Spießer, das war früher. Das blaue Licht in den Fenstern erzählt eine Geschichte der Veränderung

Ich konnte K. nie richtig leiden. Aber manchmal sagen Leute, die einem ansonsten auf die Nerven gehen, Sachen, die man später als erfrischende Einsicht auffasst. Oder die einfach lebensklug und witzig und in diesem Augenblick gerade richtig sind.

Also, auf jeden Fall gingen K., ich und noch ein paar andere einst im Mai durch das damals noch vollkommen uner­schlossene Friedrichshain zu einem Restaurant, in dem es höchstwahrscheinlich grausamen Fraß gab – verkochte Lasagne oder „Fried Noodles” mit Röstzwiebeln drauf. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Aber damals waren wir ja noch nicht so. Da deutete K. zu einem ­Fenster, das bläulich schimmert. Dieses inzwischen fast ausgestorbene blaue Leuchten, das wahrscheinlich von Neonröhren kommt, die irgendeiner Fensterbrettvegetation zu einem langen Leben verhelfen sollen. Ich werde das jetzt nicht googeln. Vielleicht war es auch eine Art Wintergarten, die gibt es in Berliner Häusern aus den 30er Jahren ja manchmal.

Auf jeden Fall erzählte K. von seinem ersten Berlinaufenthalt anno 1980. Und dass er jedes Mal, wenn er dieses bläuliche Leuchten in den Fenstern eines Kreuzberger Wohnhauses sah, dachte: Da wohnen coole Leute, das sind bestimmt Punks oder „Waver“. Denn solche bläuliche Neonröhren waren ja auch ein Kennzeichen der New-­Wave-­Kneipen, die um 1980 aufkamen.

In Wirklichkeit wohnten in diesen abgeranzten, ungestrichenen und seit dem Zweiten Weltkrieg sich selbst überlassenen Mietskasernen mit neonbläulich schimmernden Fenstern natürlich nur die übelsten Spießer, die nichts zu tun hatten, als irgendeiner Balkonpflanze das optimale, aber ­Elektrizität sparende Licht zu ­verschaffen. Keine „Waver“ oder sonst wie coolen Leute – das war die Pointe dieser Geschichte, die wir alle verstanden. K., damals ahnungslos, heute Altberliner, ho ho ho.

Das blaue Leuchten aus Privatwohnungen gibt es bis heute. In der Gegenwart können wir drei verschiedene Arten der scheinbar von innen scheinenden – und an James Turrells Lichtinstallationen erinnernden – Blauheit unterscheiden. Erstens diese komischen urbanen Treibhäuser, über die nun schon genug gesagt wurde. Zweitens das flackernde blaue Leuchten eines Fernsehers. Möglicherweise hat sich hier die Familie, die sich sonst nicht viel zu sagen hat, versammelt, um die 2Tagesschau“ zu gucken. Schlag nach bei Neil Postman oder bei Adorno, dessen Kritik ja bekanntlich schon bei den Vorhängen ansetzte, hinter denen sich diese Art von Fernsehglotzen abspielt. Für Adorno war diese Art des TV-Konsums eine Metapher der Vereinzelung des Individuums. Heute denkt man sich, wenn man das bläuliche Flackern zu vorgerückter Stunde wahrnimmt: Na ja, vielleicht gucken die ja gerade zusammen „Breaking Bad“ und reden später darüber.

Das mittlerweile wohl häufigste graublaue Leuchten hinter Fenstern zur vorgerückten Stunde kommt allerdings von den Monitoren von Laptops, an denen eine weitgehend atomisierte Entität wahlweise ihre Face­book-Timeline abarbeitet, die Powerpoint-Präsentation für morgen noch mal durchgeht oder gerade per Skype mit seiner Fernbeziehung in Barcelona telefoniert.

Dieses ins Taubengraue gehende blaue Leuchten ändert nicht die Farbintensität, anders als das flackernde TV-Blau. Es scheint mir die inzwischen häufigste Form des blauen Leuchtens zu sein. Wie gerade eine Feldstudie belegt hat, als ich um Mitternacht noch mal zum Rauchen in den Innenhof meines Hauses getreten bin und die Fenster der Nachbarn angesehen habe, die alle in diesem medialen und ununterbrochenen Blaugrau erstrahlten. Wenn sie nicht dunkel waren, weil die Nachbarn gerade in Mada­gaskar oder der Uckermark oder wo auch immer sind und ihre Bleibe nicht über das Internet vermietet bekommen haben.

Wie sie das allerdings mit einer Wohnung in Nordneukölln geschafft haben, das bleibt nun wirklich ihr Geheimnis.

Tilman Baumgärtel