Macht das Kanzleramt kaputt!

DER TRAUM LEBT Auch dieses Jahr organisierte die Geschichtswerkstatt eine Schiffsfahrt zum Todestag von Rio Reiser

Auch wenn der Traum aus war – ein Traumhaus hatten sie schon, Rio Reiser und seine Scherben. 1971 zog die Band ans Tempelhofer Ufer 32. Keine tolle Gegend, Gleisdreieck halt, nebenan eine Tankstelle, vorn heraus Landwehrkanal und brachiger Mauerstreifen. Aber Platz war da. Acht Zimmer bewohnte die Band im zweiten Obergeschoss des Altbaus, bevor sie 1975 wieder auszog und sich im schleswig-holsteinischen Fresenhagen niederließ.

Dass am Tempelhofer Ufer 32 heute eine Gedenktafel hängt, ist auch der Berliner Geschichtswerkstatt zu verdanken. Im August vor zwei Jahren hat der Chef der Senatskanzlei, Björn Böhning, die Tafel angebracht, mit dabei waren mehrere Mitglieder der Band sowie Jürgen Karwelat. „Es freut uns, dass sich Berlin an Rio Reiser erinnert“, sagt Karwelat, Mitbegründer der Berliner Geschichtswerkstatt, an diesem Samstag. Heimeliger ist die Gegend um den „T-Damm 32“ allerdings nicht geworden, auch wenn es gegenüber nicht mehr bracht, sondern potsdamerplatzt.

Es ist schon zu einem hübschen Ritual geworden, dass die 1981 im Zuge der Hausbesetzerbewegung gegründete Geschichtswerkstatt alljährlich rund um den 20. August, dem Todestag von Rio Reiser, an jene Rockband erinnert, deren Songs zu Hymnen der Bewegung geworden war. Auch am Samstag war der Ausflugsdampfer bis auf den letzten Platz besetzt, beim „Leinen los“ knarzt es aus den Lautsprechern „Blinder Passagier“.

Semia Binia, die zusammen mit Karwelat durchs Programm führt, hat für die Tour Reiser Biografie nach Berliner Spuren abgeklopft und jeder Menge Orte und Geschichten gefunden, die sich bei einer Bootsfahrt auf Spree und Landwehrkanal erzählen lassen. So ist also von Reisers Geburt in Moabit die Rede, über die er einmal augenzwinkernd schrieb: „Das erste Licht der Welt, das ich erblickte, kam von einer Osram vierzig Watt Birne. Das zweite kam von dem Osram Blitzlicht meines Vaters. Ich habe nicht geschrien. Ich war ein gutes Kind.“

Zwanzig Jahre später war das Kind aufmüpfig geworden und hatte seine erste Single aufgenommen: „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ Während Angie Olbrich, Funky Götzner, Gymmick, Nikel Pallat, Dietmar Roberg, Jörg Schlotterer und Kai Sichtermann – allesamt Scherben-Veteranen – den Sing covern, tuckert der Spreedampfer durchs Regierungsviertel. Gern hätte man den ein oder anderen Politiker des Jahrgangs 1950 gesehen, wie er darauf reagiert. Fängt er an zu tanzen oder greift er empört zum Telefon?

Das Publikum an Bord, ergraut und gewohnt trinkfest, singt da bereits mit und findet spätestens an den Ufern des Landwehrkanals sein kongeniales Gegenüber.

Kaum aber sind Kreuzberg und Neukölln verlassen, sind die Ufer menschenleer. Der Traum ist aus. Zurück am Hansaufer fällt es schwer, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Schwankendes Stück Erinnerung: „Zauberland ist abgebrannt, und brennt noch, lichterloh.“ Uwe Rada