Neuer Blick
: Das Alteist immer
das Neue

Hamburger Kunsträume

von Hajo Schiff

Es harrt im Alten stets etwas aus, was wiederbelebt werden will. Tradition ist ja nicht das krampfhafte Festhalten an leer gewordenen Formen und Inhalten, sondern der Glaube daran, dass in der Vergangenheit etwas gemacht worden ist, was in der Gegenwart zum Sprechen gebracht werden kann. Etwas so aus der zeitlichen Ferne unscharf Herausfunkelndes kehrt aber nie exakt so wieder, wie es einst war. Es wird im neuen Blick verändert, missversteht dabei oft den alten Kontext auf produktive Weise. Eines der erfolgreichsten Missverständnisse war die Erfindung der Oper, die nur das antike Theater wiederbeleben sollte: Man nahm Ende des 16. Jahrhunderts an, die alten Tragödien seien gesungen worden.

Nicht ganz so folgenreich setzt der Hamburger Künstler Simon Waßermann Missverständnisse ins Bild. In Zeichnung und Skulptur bringt er Paradoxien zur geistesgegenwärtigen Anschauung. In klarer Linie und oft schon nahe der Karikatur präsentiert er schein­evidente Optimierungen an der Welt, korrigiert Unmöglichkeiten, wie sie die Sprache mitunter gebiert, mit wenigen Strichen in einem kurzen Augenblick, wie es gegenüber dem Sprachbild nur dem echten Bild möglich ist.

Zum 275sten Geburtstag und 200sten Todestag von Matthias Claudius ist der lange im heute hamburgischen Wandsbek wirkende Dichter vor den analytischen Blick von Simon Waßermann gekommen. In 18 plakatgroßen Farb-Grafiken hat er Gedichte, Briefzitate und Artikelfragmente bildnerisch kommentiert. Der in seiner Wirkung spätromantisch verkitschte, fast nur noch für sein Liedgedicht „Der Mond ist aufgegangen …“ bekannte Pastorensohn, Fürstensecretarius, Journalist und Dichter entpuppt sich als kritischer, ja aktueller Aufklärer.

So findet sein Gedicht gegen die Sklaverei auf den westindischen Zuckerfeldern bei Waßerman ein Echo im Bild einer schwarzen Variante des Erweckungsgestus durch göttlichen Fingerzeig, wie ihn Michelangelo an der Decke der Sixtinischen Kapelle als Topos gesetzt hatte. Solch schöne Vergegenwärtigungen können Jubiläumstermine bewirken, wenn sie über Blumen und Tusch hinaus Neubewertungen zulassen. Dass die Ausstellung mit dem Titel „Die wir getrost belachen“ bis Ende Oktober in der Wandsbeker Christuskirche gezeigt wird, ist eine zusätzliche Belebung von Traditionen im einstigen Umfeld des Jubilars.