„Der Ausnahme- zustand ist auch haus- gemacht“

Das bleibt von der Woche Der Senat baut Zelte auf und beschlagnahmt Gebäude für Geflüchtete, der Kulturetat steigt um viele Millionen, die Polizei benutzt nun Aufkleber mit Strichcode, um Fahrräder zu codieren, und Müller steht in der Wählergunst so gut wie noch nie da – davon hat die Landes-SPD aber nichts

Eine Stadt bereitet
sich vor

Immer mehr Flüchtlinge

Es werden weiter Flüchtlinge kommen, darauf muss sich Berlin einstellen

Plötzlich geht alles ganz schnell. Gebäude werden beschlagnahmt, Zelte aufgebaut, sogar eine sinnvolle Verwendung für das unbeliebte ICC und das riesige Flughafengebäude in Tempelhof ist möglicherweise gefunden: Schon bald könnten hier Flüchtlinge registriert und untergebracht werden. Eine Stadt bereitet sich vor: Stündlich gibt es neue Gerüchte über die Situation der Züge aus Budapest, mit denen Hunderte, vielleicht Tausende Flüchtlinge in Berlin ankommen könnten. Doch selbst wenn diese Züge ausbleiben, ist mittlerweile jedem klar: Es werden weiter Flüchtlinge in diese Stadt kommen, und darauf muss sich Berlin mit allen verfügbaren Kräften und Mitteln einstellen.

Es ist wichtig, in dieser angespannten Stimmung auf einige Tatsachen hinzuweisen: Auch wenn der Zuwachs groß ist, verbietet ein Blick auf die absoluten Zahlen jedes Gerede von einer „Welle“, die da über uns hereinschwappen würde. Vieles von dem, was jetzt ganz schnell gehen muss, hätte zudem längst vorbereitet werden können, was die Situation jetzt deutlich entspannen würde – der Ausnahmezustand ist auch hausgemacht. Denn auch wenn genaue Prognosen schwierig sind, ist seit Monaten klar, dass die vorhandenen Unterkünfte und Registrierungsmöglichkeiten nicht ausreichen. Und: Die Unterkunft in Massenlagern und Zeltstädten wird auch dann nicht zur richtigen Lösung, wenn sie kurzfristig unumgänglich scheint.

In dieser Aufregung, die die Stadt mit Blick auf die Flüchtlinge ergriffen hat, schwingt aber auch etwas Wichtiges, Gutes mit: die Ahnung dessen, dass gerade etwas Großes passiert – dass das Grenzregime der EU an seine Grenzen kommt, dass die Flüchtlingsfrage mitten hinein getragen wird in die Straßen, Büros und Köpfe in dieser Stadt. Malene Gürgen

Wer kriegt die vielen Millionen?

Kulturetat soll steigen

Ein ungerechtes Verteilungsprinzip benachteiligt die freie Szene erneut

Die Nachricht hörte sich gut an: „Es wird mehr Geld für die Kultur geben. Ich bin froh, dass ich diesen früher doch vernachlässigten Bereich wieder mit zusätzlichen Mitteln stärken kann.“ Michael Müller (SPD), Berlins Regierender Bürgermeister und Kultursenator, hatte dies am Montag im Abgeordnetenhaus bei der ersten Lesung des Kulturhaushalts für die Jahre 2016/17 mit Stolz verkündet. Millionen obendrauf wird es also geben – auch für die freie Szene. Doch warum erntete Müller von den vielen im Kulturausschuss anwesenden jungen Künstlern dafür lautstarke Kritik und Häme, steigt doch der Berliner Kulturhaushalt in den kommenden zwei Jahren wirklich und deutlich an?

Die Zahlen sehen so aus: Geplant ist, dass 2016 die Zuwendungen des Senats für Theater und Opern, für Museen, den modernen Tanz und freie Künstler, für die bildende Kunst und Musikgruppen um 32,2 Millionen Euro auf 504,5 Millionen Euro steigen. Ein Jahr später will Müller noch einmal knapp 20 Mil­lio­nen Euro drauflegen: 2017 sollen es 521,6 Millionen Euro sein, also insgesamt gut 50 Millionen Euro mehr als bisher. Das klingt vielversprechend. Oder?

Guckt man genauer hin, verbirgt sich hinter diesen tollen Zahlen ein ungerechtes Verteilungsprinzip, das die freie Szene ein weiteres Mal benachteiligt: So geht schon die Hälfte der Erhöhungen auf Tarifsteigerungen sowie höhere Mieten an den großen Häusern zurück. Auch der Vorwurf der Opposition, die Volksbühne und das Berliner Ensemble erhielten exklusiv für den Start ihrer neuen Intendanten, Chris Dercon beziehungsweise Oliver Reese, Millionen Euro extra, sticht.

Und gab es nicht mal die Idee, Gelder aus den City-Tax-Einnahmen wieder in die Kulturszene zu reinvestieren? Es wurde sogar verabredet, dass ein Drittel der Einnahmen über 25 Millionen Euro in die freie Szene fließen soll. 2016 rechnet Berlin mit 47 Millionen Euro aus der City Tax. Doch statt 7 Millionen kriegt die Szene nur 2,5. Darum die lautstarken Lacher. Da wäre es nur gut und gerecht, wenn der Kultursenator nachbesserte. Rolf Lautenschläger

Die haben doch ein
Rad ab!

Polizei registriert Räder

„Die ansteckbaren Leuchten müssen immer dran sein, auch am Tag“

Das Verhältnis zwischen Poli­zisten und Fahrradfahrern ist von Missverständnissen geprägt. Die einen glauben, alles besser zu wissen; die anderen auch. So versuchen beide Seiten, ein Aufeinandertreffen zu vermeiden.

Manchmal klappt das aber nicht, wie das stets aktuelle Beispiel Räderklau zeigt. Seit Montag können sich Radler ihr Vehikel bei der Polizei auf neue Art registrieren lassen: Statt aufwendig einen Code in den Rahmen zu fräsen, gibt es nun einen angeblich kaum mehr anzuknibbelnden Aufkleber: „Finger weg! Mein Rad ist codiert“, steht da neben einem Zahlen- und Strichcode. Den Anfang machte Polizeipräsident Klaus Kandt. Er präsentierte den Kollegen sein flottes Rennrad – und eine offenbar laxe Einstellung zur Straßenverkehrsordnung: Sein Rad hatte weder genügend Reflektoren noch eine Lichtanlage.

Wer nun einen der Termine in dieser Woche nutzte, um auch einen Aufkleber zu bekommen, musste sein Rad zuerst in Augenschein nehmen lassen. Etwa am Donnerstagnachmittag im Polizeiabschnitt 53 in der Friedrichstraße. Erwartungsgemäß entgeht den wachsamen Augen nicht, dass das vorgestellte Rad weder genügend Reflektoren aufweist noch eine feste Lichtanlage. „Die ansteckbaren Leuchten müssen immer dran sein, auch am Tag“, belehrt der Beamte. „Es könnte ja plötzlich anfangen, stark zu regnen.“

Tja, was soll man dazu sagen?

Aber natürlich handelt es sich um lauter Missverständnisse. Der Polizeipräsident braucht für sein Rennrad kein Licht, weil es weniger als elf Kilo wiegt, betont die Polizei später. Doch auch das im Abschnitt 53 vorgestellte Rad liegt unter dieser Grenze – danach wird aber nicht gefragt. Es sieht eben nicht wie ein Rennrad aus. Nur: Was ist heute noch ein Rennrad? Und wieso wird in einer Stadt, in der gefühlt die Hälfte aller Radler wenn möglich bei Rot über die Ampel fährt, auf eine sinnfreie Leuchtregelung hingewiesen?

Vorschriften sind in diesem Fall Auslegungssache – und keine Wahrheiten. Darum ist es auch besser, jegliches Aufeinandertreffen mit der Polizei zu vermeiden. Bert Schulz

SPD profitiert nicht vom Regierenden

Müller im Jahreshoch

Selten geschlossen versammelt sich die Partei hinter ihrem Aushängeschild

Mit Michael Müller (SPD) ist es wie mit den Touristen. Kaum hat man gedacht, der Anstieg müsse ja mal ins Stocken geraten, werden die neuen Zahlen präsentiert. Und siehe da: Die Kurve zeigt noch weiter nach oben. Bei den Touristen greift Berlin nun Europas Nummer zwei Paris an. Beim Regieren hat der SPD-Regierende Bürgermeister den CDU-Konkurrenten Frank Henkel weit hinten im Feld liegen lassen.

Gäbe es in Berlin eine Direktwahl, würden nach der am ­Montag veröffentlichten Forsa-Umfrage 58 Prozent der Berliner den SPD-Mann wählen. Für Henkel blieben nur noch zwölf Prozent der Wählergunst. Das ist exakt jene Zahl, ab der auf der Skala gegen null die Ziffern ausgeschrieben werden, damit sie wenigstens noch etwas hermachen.

Manchen mag es ein Rätsel sein, dass der designierte CDU-Spitzenkandidat für die Wahlen 2016 noch nicht das Handtuch geworfen hat. Aber ein Trost bleibt ihm: Henkel ist es bislang nicht gelungen, seine Partei mit sich in den Abgrund zu ziehen. So, wie es auch Müller noch nicht geschafft hat, die SPD über die 30-Prozent-Marke zu hieven. Muss der Regierende nun den letzten Schritt gehen und auch noch nach dem Posten des Landesvorsitzenden greifen? Soll er, der einst von Jan Stöß vom Thron gestoßen wurde, im Gegenstoß nun selbigen entmachten?

Angedeutet hat es Müller schon einmal, bislang aber blieb es eine Drohung. Immerhin hat sie gewirkt. Selten geschlossen versammelt sich die Partei hinter ihrem Aushängeschild, Frotzeleien hat man von Landeschef Stöß oder Fraktionschef Raed Saleh schon lange nicht mehr gehört.

Auf diesen Wahlkampf kann man gespannt sein. Denn dort wird es nicht nur um Beliebtheit gehen, sondern um Inhalte. Die jüngste Umfrage kann man auch so interpretieren, dass die Wähler gar nicht so unzufrieden sind mit der SPD-CDU-Koalition. Und wenn die CDU dann auch noch Henkel in die Wüste schickte, wäre die Zufriedenheit noch größer.

Der SPD kann das gar nicht recht sein. Denn die Stadt hat mehr verdient als eine regierende CDU. Müller muss also den Wechsel organisieren. Seine Partei alleine ist nämlich zu schwach dafür. Uwe Rada