Zombie-Eurydike und ihre Klone

Ruhrtriennale Susanne Kennedy und Krzysztof Warlikowski zeigen ästhetische Gegenwelten – inspiriert von Monteverdi und Jelinek sowie Proust und Kubrick

Ein anderer Blick auf den Mythos: Eurydike sehen wir viele Male, Orpheus hören wir lange bloß aus dem Off Foto: Ruhrtriennale

von Regine Müller

Die Ruhrtriennale war nie ein bescheidenes Festival. Von Beginn an lag die Latte des ästhetischen Anspruchs hoch. Dass sich dies nie vereinbaren ließ mit dem Versprechen, auch kunstferne Schichten anzusprechen, hält den Intendanten Johan Simons nicht davon ab, das Motto „Seid umschlungen“ auszurufen. Mehr denn je geht das Festival mit Gesprächsangeboten und Sonderaktionen auf die Menschen der Gegend zu – was man von den bislang gezeigten Produktionen kaum behaupten kann. Denn diese warten mit Ansprüchen auf, die sich schon auf dem Papier einschüchternd lesen.

Die beiden neuesten Produktionen der Ruhrtriennale könnten unterschiedlicher nicht sein, sie vertreten ästhetische Gegenwelten: Während die hoch gehandelte Regisseurin Susanne Kennedy das Publikum bei „Orfeo“ in einem streng durchgetakteten Rhythmus durch eine begehbare Installation schickt, die aus hyperrealistisch ausstaffierten Retro-Plastik-Zimmerchen mit stummen Zombiefrauen besteht, zeigt der polnischen Theater- und Opernregisseur Krzysztof Warlikowski mit seinem fünfstündigen, bildermächtigen Untergangs­pano­rama „Die Franzosen“ großes, klassisches und ganz und gar ironiefreies Schauspielertheater. Beide Produktionen greifen nach den Sternen: Susanne Kennedy nähert sich Claudio Monteverdis „L’Orfeo“, der ersten Oper überhaupt, die von der selbst den Tod überwindenden Kraft der Musik handelt, während Warlikowski Marcel Prousts monumentalen Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ auf die Bühne bringt.

Kennedys „Orfeo“ bespielt das Labyrinth der Mischanlage auf der Kokerei der Zeche Zollverein, das mit seinen Treppen, Trichtern und Schlünden eigentlich wie gemacht scheint für eine Installation. Doch die Räume, die Katrin Bombe in die Mischanlage gebaut hat, nehmen die schrundige Architektur gar nicht zur Kenntnis. Denn die klaustrophobischen Zimmerchen, die in fiesen Pastellfarben mit Plastikmöbeln ausgestattet sind, könnten so überall installiert werden.

In Grüppchen zu acht Personen verheißt der Beginn zunächst Großes: Mit einer quietschenden Lore geht es steil hinauf in den Hochturm der Anlage. Aber wozu das? Denn dann muss man die Treppen wieder halb hinunter, bevor man in einem Vorzimmer (der Hölle?) über Kopfhörer auf Englisch Instruktionen erhält. Dann öffnet sich mit grünem Licht die erste Tür. Im ersten Zimmerchen sitzt eine Frau mit weißblonder Barbie-Perücke und gespenstischer Latexmaske, aus der die echten Augen unheimlich hervorblinzeln. Eine Zombie-Eurydike, deren Klone auch die folgenden Räume behausen. Sie sitzen an Tischen und essen Kirschen, sie bedienen Streichinstrumente mit nur einer Kadenz, sie stehen herum, bewegen sich in Zeitlupe und fixieren das irritierte Publikum. In jedem Raum bleibt man tatenlos eine gefühlte Ewigkeit, bevor das grüne Licht in die nächste Schleuse und von dieser in die nächste Zimmerhölle mit Zombiefrauen schickt.

Orpheus auf dem Kopf

Er plündert die Schatzkammer der westeuropäischen Hochkultur, lässt Debussy und Strauss dröhnend einspielen

Susanne Kennedy stellt den Orpheus-Mythos auf den Kopf, denn man begegnet immer nur jenen Zombie-Eurydikes, während man von dem mythischen Sänger bis kurz vor Schluss nur die Stimme aus dem Off vernimmt, die wieder und wieder Passagen aus Monteverdis Oper anstimmt. Von der hört man nur atomisierte Fetzen, überlagert von elektronischen Klängen und Geräuschen. „Eine Sterbeübung“ hat Kennedy das Ganze untertitelt, das Programmbuch nennt Jelinek und Theweleit als Inspirationen und das tibetische Totenbuch mit seiner Anleitung zum finalen Loslassen. All das vermittelt sich nicht auf dem unheimlichen Parcours, der allenfalls eine irritierende Selbstbegegnung ist, aber keineswegs eine Transzendenzerfahrung.

Die stellt sich dann schon eher ein in der Gladbecker Maschinenhalle der Zeche Zweckel, in die Krzysztof Warlikowski seine Proust-Adaption wuchtet. Mäandernd und springend arbeitet er sich schlaglichtartig durch Prousts monumentales Werk, die Schauspieler sprechen polnisch, zunächst hat man Mühe, den Übertiteln und zugleich dem Geschehen auf der Bühne zu folgen, aber allmählich findet man hinein.

Der polnische Theatermacher sieht fatale Parallelen zwischen Prousts dekadenter Fin-de-­siècle-­Gesellschaft und dem heutigen Hedonismus. Er präpariert die antisemitischen Passagen zur Dreyfus-Affäre aus dem Roman heraus und deutet die Abgrenzungsstrategien gegenüber unliebsamen Minderheiten (damals wie heute) als untrügliche Vorzeichen kommender elementarer Umwälzungen. Dazu plündert er neben Proust die Schatzkammer der westeuropäischen Hochkultur, lässt Debussy und Strauss dröhnend einspielen, zitiert Kubricks „2001“, Celans „Todesfuge“ und gegen Ende schreit Maciej Stuhr Fernando Pessoas „Ultimatum“-Monolog heraus, einen von Hass vergifteten Abgesang auf Europa. Trotz Längen ein starker Abend und grandioses Schauspielertheater.