Vision Demographen schätzen, dass in wenigen Jahren etwa die Hälfte aller Menschen über 60 dement sein wird. Karl Broich leitet die Zulassungsbehörde für Arzneimittel. Er verspricht, die Demenz-Forschung aus ihrer Sackgasse zu führen
: „Es wird ein Medikament geben“

Karl Broich hält nichts davon, große Teile der Bevölkerung auf ihr Demenzrisiko hin zu testen. Foto: Martin Magunia

INTERVIEW Heike Haarhoff

taz am wochenende: Herr Broich, statistisch haben Sie und ich sehr gute Chancen, in zwei bis drei Jahrzehnten an Alzheimer zu erkranken. Jeder dritte Mann und jede zweite Frau jenseits der 60, so die Prognose von Demografen, wird im Jahr 2030 in Deutschland dement sein. Macht Ihnen die Vorstellung Angst, eines Tages alles zu vergessen?

Karl Broich: Angenehm ist sie sicher nicht. Ich weiß aber nicht, ob es wirklich so kommen wird. Also führt es zu nichts, sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen.

Sie könnten Ihr Alzheimer-Risiko untersuchen lassen.

Was sollte ich mit dieser Information anfangen? Ich wüsste doch nur, ob ich eine höhere oder niedrigere Wahrscheinlichkeit hätte zu erkranken – mehr nicht. Diese Information würde mir für meinen jetzigen Alltag also kaum weiterhelfen. Aber sie würde mich beeinflussen, möglicherweise so sehr, dass ich mein Leben anders planen würde. Das möchte ich aber nicht. Ich möchte mein Leben leben, ohne die Erkrankung im Hinterkopf zu haben.

Weil Sie als Neurologe und Psychiater wissen, dass der Verlauf der Krankheit unumkehrbar ist?

Ich schätze mich von meiner Persönlichkeit so ein, dass ich mit der Information, dass ich höchstwahrscheinlich erkranken werde, sogar klarkäme. Ich weiß aber aus meiner beruflichen Tätigkeit, dass es für Menschen ein Desaster sein kann. Jede Alltagsvergesslichkeit wird dann als Zeichen gewertet, dass es jetzt losgeht.

Ist Nichtwissen wirklich immer besser als Wissen?

Auf diese Frage kann es nicht die eine richtige Antwort geben. Nehmen Sie Chorea Huntington, diese unheilbare, erbliche Erkrankung des Gehirns. Wer einen solchen Fall in der Familie hat, weiß um sein sehr hohes Risiko, selbst zu erkranken. Viele Menschen möchten wissen: Wird es mich treffen? Und dann lassen sie sich genetisch untersuchen und haben anschließend Gewissheit, ob sie das Allel, das die Krankheit verursacht, geerbt haben oder nicht. Das finde ich in Ordnung.

Aber bei der Demenz finden Sie solche Tests nicht in Ordnung?

Die Person: Karl Broich, 55, ist seit 2014 Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn. Zuvor leitete er als Oberarzt die Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Halle. Er ist Honorarprofessor der Universität Bonn.

Die Schwerpunkte: Er forscht zu klinischer Psychopharmakologie, Demenzerkrankungen sowie der Methodik klinischer Prüfungen.

Der Unterschied ist doch: Die wenigsten Demenzen sind erblich. Das bedeutet, dass aus der Wahrscheinlichkeitsprognose allein noch nichts folgt.

Muss diese Entscheidung nicht jeder für sich selbst treffen?

Selbstverständlich. Wenn jemand das Gefühl hat, sein Gedächtnis lässt nach und er möchte das in einer klinischen Studie überprüfen lassen, dann ist das im Einzelfall legitim. Von breit angelegten Screenings der Bevölkerung dagegen halte ich gar nichts. Solange wir keine Therapie gegen Alzheimer haben, fände ich es ethisch sehr bedenklich, jedem Dritten zu sagen, dass er oder sie ein deutlich erhöhtes Demenzrisiko hat.

Als Arzt für Psychiatrie und Neurologie mussten Sie es über Jahre aushalten, Ihren demenzkranken Patienten keine wirksame Behandlung anbieten zu können. Inzwischen leiten Sie die deutsche Zulassungsbehörde für Arzneimittel. Was läuft schief in der Forschung zu Alzheimer-Medikamenten?

Die Forschung hat sich zu einseitig und über Jahre darauf fokussiert, erst dann zu therapieren, wenn die Demenz als Vollbild diagnostiziert war. Inzwischen wissen wir aber, dass 80 bis 90 Prozent der Kerngebiete des Gehirns und der wichtigsten Nervenzellen bereits unwiederbringlich zerstört sind, wenn die Demenz mit all ihren Symptomen da ist, also den Gedächtnisstörungen, den Verhaltensauffälligkeiten.

Die Therapien müssen früher ansetzen?

Ja. Wir haben deswegen inzwischen die Diagnosekriterien für Patienten geändert. Wir warten nicht mehr ab, bis das Vollbild der Demenz erkennbar ist. Sondern wir untersuchen eine frühe Gedächtnisstörung und ziehen einen Biomarker heran, also ein charakteristisches biologisches Merkmal, das gemessen werden und auf einen krankhaften Prozess im Körper hinweisen kann.

Wie funktioniert das?

Wir können im Nervenwasser bestimmte Proteinkonstellationen messen und über bildgebende Verfahren die beginnende Hirnschrumpfung sehr früh erkennen. Auf diese Weise können wir Demenzen bereits 10 oder 15 Jahre vor ihrem Vollbild identifizieren.

Die Krankheit: Die Alzheimer-Krankheit ist eine chronische, hirnorganische Krankheit und die häufigste Form der Demenz. Der größte Risikofaktor ist das Alter.

Die Symptome: Im Gehirn von Demenz-Kranken sind typische Eiweißablagerungen festzustellen. Sie stören die Signalübertragung im Gehirn und führen zum Absterben von Nervenzellen. Zunächst treten Gedächtnis- und Orientierungsstörungen, Sprachstörungen, Störungen des Denk- und Urteilsvermögens sowie Veränderungen der Persönlichkeit auf. In der letzten Phase kommt es zum vollständigen Verlust von Gedächtnis, Körperkontrolle, Orientierung und Sprache.

Die Therapie: Alzheimer ist unheilbar. Es gibt bislang nur vier Medikamente, die Symptome lindern oder den Krankheitsverlauf verzögern können.

Eine wirksame Therapie gibt es trotzdem nicht. Forschung und Industrie stecken in einer Sackgasse. Kommen sie da heraus – was wetten Sie?

Ich wette nicht. Ich mache Ihnen ein Versprechen.

Ich bin gespannt!

Ich bin jetzt 55 Jahre alt. Und ich sage, dass wir, bevor ich pensioniert werde, ein erstes vielversprechendes Medikament gegen Alzheimer zugelassen haben werden in Deutschland.

Was macht Sie so optimistisch, dass es zu mehr kommen könnte als zu einer zeitlichen Verzögerung der Krankheit?

Niemand kann derzeit Heilung versprechen. Und es wird vermutlich auch nicht das eine magische Medikament geben, das alles kann. Dafür sind schlicht zu viele Gene an der Entstehung der Krankheit beteiligt, und dafür wissen wir auch zu wenig über die Primärmechanismen.

Hach, jetzt rudern Sie schon wieder zurück.

Keineswegs. Wir werden künftig mit Medikamenten in früheren Stadien als bisher ansetzen und Kombinationstherapien entwickeln, die je nach Stadium der Krankheit modifiziert werden müssen.

Können Sie das genauer erklären? Wie könnten Wirkmechanismen ernst zu nehmender Medikamente aussehen?

Neue Erkenntnisse weisen darauf hin, dass es verschiedene Typen mit unterschiedlichem Verlauf der Erkrankung gibt. Zusätzlich stehen je nach Krankheitsstadium andere Mechanismen im Vordergrund, zum Beispiel bei den typischen Eiweißablagerungen im Gehirn. Medikamente werden also hierfür gezielt entwickelt werden, sodass zum Beispiel bei frühen Formen andere Medikamente eingesetzt werden als bei späten Formen. Dabei dürften Medikamente mit unterschiedlichen Wirkmechanismen auch kombiniert werden.

Diese Entwicklung – immer speziellere, maßgeschneiderte Medikamente für immer kleinere Patientengruppen – erleben wir heute auch schon in der Krebsbehandlung. Für viele Krebskranke ist das ein Segen, die Industrie aber verlangt mitunter astronomische Preise. Zur Begründung heißt es dann: Die Forschung werde aufwändiger, der Patentschutz entsprechend kürzer und die Patientengruppe, an der sich schlussendlich Geld verdienen lasse, kleiner.

Unbestritten steigen die Anforderungen. Die Industrie hat beim Alzheimer Milliarden verloren, wenn man alle Firmen betrachtet und die vielen Studienarbeiten einrechnet, die gescheitert sind. Dennoch hielte ich es für falsch, deswegen unsere regulatorischen Standards aufzuweichen. Um die Sicherheit und die Wirksamkeit von Medikamenten garantieren zu können, sind Kurzzeit- und Langzeitdaten unverzichtbar.

In den USA gibt es den Trend, ­innovative Arzneimittel schneller an den Patienten zu bringen und dafür dann auch von den üblichen regulatorischen Standards abzuweichen. Warum ist das bei uns nicht möglich?

Einspruch! Wenn sich echte Innovationen für neue Behandlungsmöglichkeiten abzeichnen, kommen auch wir der Industrie entgegen und lassen ein Medikament schneller zu – auch wenn es weniger Studiendaten gibt. Zu einer ehrlichen Diskussion gehört meiner Ansicht nach auch, über längere Patentschutzzeiten nachzudenken für Medikamente, die mit viel Aufwand entwickelt wurden und einen großen Anwendungsbereich betreffen.

Die Debatte über die Explosion von Arzneimittelpreisen ist auch immer eine um die Grenzen der Belastbarkeit der Gesundheitssysteme. Teilen Sie die Sorge, dass wir, ähnlich wie in Großbritannien, demnächst darüber nachdenken werden, dass Patienten ab einem bestimmten Alter möglicherweise bestimmte Operationen oder Arzneimittel nicht mehr erstattet bekommen?

Meine Sorge reicht weiter. Wir müssen davon ausgehen, dass angesichts steigender und vor allem stark variierender Preise auch innerhalb Europas ein Schwarzmarkt für Medikamente entsteht. Einen Vorgeschmack auf das, was auf uns zukommen könnte, sind die massiven Arzneimittelfälschungen aus Italien.

Extrem teure, hochsensible und leicht verderbliche Krebs­prä­parate aus Deutschland werden dort aus Krankenhäusern gestohlen, Transportfahrzeuge werden überfallen und ausgeraubt.

Richtig. Und anschließend wurde die Ware, die ursprünglich für Italien bestimmt war, umetikettiert, weiterverkauft und über Umwege wieder in die legale Handelskette eingespeist. Auch in Deutschland ist derart gefälschte Ware aufgetaucht.

Wie kann das sein?

Je teurer Arzneimittel sind, und je unterschiedlicher die Preise in Europa, desto lukrativer wird dieses Geschäft und desto mehr kriminelle Energie wird es befördern. Richtig Angst macht mir, was im Fall des gestohlenen Krebsmittels Herceptin herauskam: Der Wirkstoff in den Ampullen wurde verdünnt. Dann wurden Antibiotika beigesetzt, damit bei Patienten, die das gepanschte Mittel bekämen, zumindest keine Infektionen auftreten würden und die Fälschung nicht so schnell auffliegen würde. Andernorts wurde nicht das Arzneimittel an sich verändert, aber vermutlich die Kühlkette unterbrochen, sodass diese Medikamente gar nicht mehr wirken können.

Haben Sie eine Erklärung, warum Menschen ausgerechnet solche Medikamente stehlen und manipulieren, die Tod­kranken das Leben retten könnten?

Ich glaube gar nicht, dass sich da irgendjemand Gedanken gemacht hat um die Anwendungsgebiete der Arzneimittel oder um ihre spezielle Bedeutung für einzelne Patientengruppen. Der Anreiz sind die hohen Gewinnmargen. Die organisierte Kriminalität, und dieser Verdacht besteht ja in Italien, dass wir es mit organisierter Kriminalität zu tun haben, hat da ein neues Geschäftsmodell entwickelt. Es funktioniert ähnlich wie der Drogenhandel. Medikamente werden gestohlen und umetikettiert, dann wird ihre Spur über viele europäische Zwischenstationen verwischt, um sie schließlich wieder in den Markt einzuschleusen. Angesichts der dramatischen Preisentwicklung im Arzneimittelsektor nehmen wir an, dass es sich um ein Problem handelt, das eher zu- als abnehmen wird.

Was muss passieren?

Wir sind mit der Politik im Gespräch. Wir müssen die Vertriebswege sicherer machen, die Lieferketten besser kontrollieren und das Fälschen mit neuen Packungscodes und Registriernummern komplizierter machen. Die gesamte Händlerkette muss nachvollziehbar sein.

Das alles wird den Vertriebsweg deutlich teurer machen.

Ich sehe keine Alternative. Es geht um die Sicherheit schwerstkranker Menschen.

Bewohner eines Altenheims in Frankreich, in der geschlossenen Abteilung für Alzheimer-Patienten. Die Fotografin Maja Daniels dokumentiert deren Alltag. Hier, wie sie immer wieder versuchen, Türen zu öffnen Fotos: Maja Daniels

Apotheker in Deutschland sind gesetzlich dazu verpflichtet, mindestens fünf Prozent ihrer Arzneimittel aus sogenannten Parallelimporten abzugeben. Das sind Medikamente, die legal von Pharma-Großhändlern in anderen EU-Staaten aufgekauft werden – häufig zu einem weitaus niedrigeren Preis als bei uns. Anschließend bringen die Händler die Pillen nach Deutschland und verkaufen sie hier zu einem günstigeren Preis als dem deutschen. Die Krankenkassen wollen auf diese Weise Geld sparen. Allein in Deutschland gibt es deswegen mehr als 4.000 zugelassene Großhändler.

Einige arbeiten wie Broker: Sie scannen die europäischen Arzneimittelmärkte nach günstigen Angeboten und bieten sie andernorts Händlern an. Fehlende Zollkontrollen auf dem gemeinsamen EU-Markt, aber auch die extremen Preisunterschiede zwischen einzelnen Ländern begünstigen derlei ­Geschäfte – und schaffen erst die Schlupflöcher, die Kriminelle dann für ihre Zwecke nutzen.

Ist das unvermeidbar?

Für den Parallelimport und vor allem für seine Zwangsquote gibt es aus meiner Sicht heutzutage überhaupt keinen Sinn mehr. Der freie Warenverkehr in Europa ist sicher ein hohes Gut. Aber um die Kosten von Arzneimittelpreisen zu kontrollieren, existieren andere gesetzliche Instrumente.

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe könnte die Pflicht zum Parallelimport abschaffen. Doch er sieht keinen Anlass dafür. Passiert es öfter, dass Sie mit Ihrem Dienstherrn im Clinch liegen?

Unsere fachliche Sicht ist gefragt und hat auch Gewicht. Der Minister muss aber auch andere Aspekte berücksichtigen. Gesellschaftliche Entscheidungen können nicht immer allein auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Das frustriert mich auch nicht.

Woher rührt Ihr langer Atem?

Ich halte mich für einen rational denkenden Menschen. Daneben gibt es aber auch sehr persönliche Erlebnisse, die mich prägen und geprägt haben. Während des Studiums ist ein sehr guter Freund und Kommilitone an Multipler Sklerose erkrankt. Der Krankheitsverlauf war ­dramatisch. Es gab damals nichts, kein Medikament, keine Therapie. Es war zum Verzweifeln.

Und dann?

Und dann hat es mich erstens darin bestärkt, meine Facharztausbildung zum Neurologen zu machen, aber zweitens vor allem darin, es persönlich aushalten zu können, dass man manche Dinge diagnostizieren kann, ohne unmittelbar helfen zu können.

Heike Haarhoff ist Gesundheitsredakteurin der taz

Maja Daniels untersucht in ihrer Fotoreihe „Into Oblivion“ wie Menschen alt werden