Handy-Knipser im Visier

Novelle Niedersachsen plant ein Gesetz zum Fotografierverbot von Unfällen durch Privatpersonen und Leserreporter. Bei Experten ist die Idee allerdings umstritten

Bernd Schreiber* hält sich nicht für sensationsgeil. Als er eines Tages im Straßencafe sitzt, ahnt er nichts Böses. Doch dann gibt es im Lokal gegenüber einen Knall, eine große Explosion – Glas zerspringt, Menschen werden aus dem Lokal geschleudert, rennen schreiend vor Schmerzen vor die Tür und fallen verletzt auf die Straße.

Ohne groß nachzudenken hat Schreiber sein Smartphone gezückt, um das Unfassbare in Bild und Video festzuhalten – auch von den Personen, die später Erste Hilfe leisten, ohne dass er selber Hand anlegt. Die Bilder noch nicht verarbeitet, kommt er nun auf eine makabere Idee. Um seiner Freundin das soeben Gesehene mitzuteilen, schickt er ihr Fotos auf ihr Handy und auf Twitter.

Nach einer Stunde setzt Schreiber einen drauf – und teilt seiner ganzen Facebook-Gemeinde imponierend mit, dass er Augenzeuge eines schweren Unglücks geworden ist – und natürlich postet er noch mehr Fotos, ohne die Opfer zu anonymisieren. Schreiber bekommt daraufhin den Tipp, die Fotos doch als sogenannter „Leserreporter“ den lokalen Boulevardzeitungen – natürlich gegen Geld – anzubieten. Denn die regulären Pressefotografen waren erst vor Ort, als bereits die Rettungskräfte eingetroffen sind und die Polizei die Unglücksstelle abgeriegelt hatte.

Einen Vorgang, den Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) künftig verhindern möchte. Er kündigte an, nach der Sommerpause in Zusammenarbeit mit dem niedersächsischen Justizministerium einen Gesetzentwurf zu erarbeiten und als Bundesratsinitiative einzubringen. Er soll Schaulustigen und „Gaffern“ das Fotografieren und Filmen von Unfallopfern verbieten. „Wir brauchen dringend einen entsprechenden Straftatbestand“, sagte Pistorius.

Pistorius auf Zinne

Der konkrete Anlass, der Pistorius „richtig auf Zinne“ brachte, war ein schwerer Verkehrsunfall in Bremervörde Anfang Juli. Die Autofahrerin war mit ihrem Kombi geradewegs und ungebremst in die an einer T-Kreuzung befindliche Eisdiele „Pinocchio“ gerast. Ein zweijähriger Junge, der mit seinen Eltern Eis essen war, und ein 65-Jähriger starben. Die Eltern wurden zum Teil schwer verletzt.

In der Folge der Karambolage gab es massive Rangeleien zwischen Polizei und Gaffern, die mit ihren Smartphones Fotos machen wollten vom in der Tat skurrilen Unfallort. „Ich finde es zutiefst abstoßend, wenn Gaffer mit ihren Handys Verletzte oder gar Halbtote aufnehmen, um sich damit im Netz zu profilieren“, sagt Pistorius. Solche Bilder und Videos seien ein „schwerer Verstoß gegen die Würde der Menschen“.

Das von ihm geforderte Foto- und Filmverbot beziehe sich ausdrücklich auch auf alle am Einsatz beteiligten Polizisten und andere Einsatzkräfte. Außer Journalisten könne niemand die Erstellung von Fotos und Filmen mit einem Informationsrecht für die Öffentlichkeit rechtfertigen, sagt Pistorius: Dies gelte ausdrücklich auch für sogenannte „Leserreporter“, die ihre Bilder gegen eine Abdruckprämie an Boulevardzeitungen weitergeben würden.

Recht aufs Fotografieren

Pistorius'Ankündigung ist nicht unumstritten: „Das ist eine Einschränkung der Informationsfreiheit“, sagte der Hamburger Staatsrechtler Ulrich Karpen der taz. Jeder Mensch habe das Recht im öffentlichen Raum zu fotografieren – auch Unfälle, sagt Karpen. Die Polizei habe durch Maßnahmen wie Absperrungen, Planen und Abdeckungen die Möglichkeit, Persönlichkeitsrechte der Opfer zu schützen. Und wenn das noch nicht möglich war, „dann hat das Opfer Pech gehabt“, so Karpen. „Grundsätzlich steht das Informationsrecht über dem Persönlichkeitsrecht, weil es sich um ein faktisches Ereignis handelt, an dem die Schaulustigen keine Schuld haben“. Laut Karpen sei ein solches Gesetz ein reines „Schaufenstergesetz, gut gemeint, aber nicht beherrschbar“.

Der Kieler Presserechts- und Medienanwalt Björn Elberling ist auch gegen ein Gesetz für ein Fotografierverbot und verweist auf das Kunst­urhebergesetz, was jedem das Recht aufs eigene Bild garantiert. Danach ist das Anfertigen von Bildern zwar erlaubt, die Frage sei dann allerdings, ob das Bild veröffentlicht werden dürfe. Wenn ein Foto über ein Unfallopfer Anonymität gewährleistet, weil die Person nicht identifizierbar sei, spreche nichts dagegen. Oder wenn es sich um ein „Ereignis der Zeitgeschichte“ handele, führt Elberling aus.

Er erinnert an den NSU-Nagelbomben-Anschlag von Köln aus dem Jahr 2001, wo das private Bild eines Opfers durch die Internationale Presse gedruckt worden sei. Aber es gebe auch Aufnahmen, wo es „kein öffentliches Interesse gibt, eine Person zur Schau zu stellen“, sagt Elberling. Zudem verweist der Jurist auf den Paragrafen 201a Strafgesetzbuch, der schon jetzt Bildaufnahmen in „höchstpersönlichen Lebensbereichen“ untersagt und unter Strafe bis zu zwei Jahren Haft stellt. Denn: Wer die „Bildaufnahme, die die Hilflosigkeit einer anderen Person zur Schau stellt, unbefugt herstellt oder überträgt und dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der abgebildeten Person verletzt“, handelt bereits heute gesetzwidrig. Kai von Appen

*Name geändert