piwik no script img

„Gedenken war verboten“

stalin Wegen der Auflösung der Wolgarepublik ist der 28. August Tag der Russlanddeutschen

Katharina Neufeld

64, promovierte Historikerin, stammt aus Orenburg, und leitet seit 1999 das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold.

taz: Frau Neufeld, ist der 28. August ein vergessener Gedenktag?

Katharina Neufeld: Unter Russlanddeutschen nicht – vor allem nicht unter der älteren Generation und unter denen aus dem Gebiet der Wolgarepublik. Allerdings stimmt es, dass die jüngere Generation den Tag oft erst spät kennengelernt hat: Bis zur Perestroika unter Gorbatschow war es verboten, ihn zu begehen.

Immer? Hatte nicht Nikita Chruschtschow Stalins Nationalismus und das Dekret vom 28. August 1941, mit dem die Wolgarepublik aufgelöst wurde, als verfassungswidrig verurteilt?

Aber nur in einer Geheimrede. Ich selbst war in der Chruschtschow-Zeit ein Kind, aber so lange ich denken kann, durfte dieser Trauertag nicht begangen oder auch nur erwähnt werden: Man hat sich darüber auf verklausulierte Weise unterhalten. Für die Rehabilitierung der Russlanddeutschen hat erst Michail Gorbatschow gesorgt. Erst danach sind öffentliche Gedenkveranstaltungen möglich.

Wie hatten sich die Russlanddeutschen denn zu Deutschland verhalten?

Es gab sicher viele Anhänger Hitlers, aber ein großer Teil von ihnen war auch sehr sowjetpatriotisch eingestellt: Mindestens 20.000 Deutschstämmige waren in der Roten Armee – in manchen Quellen ist sogar von 60.000 deutschen Sowjetsoldaten die Rede. Die wurden mit Veröffentlichung des Dekrets von der Front abgezogen, zu Bausoldaten gemacht – und meist nach Sibirien verlegt.

Das Dekret war eine Reaktion auf den deutschen Überfall, Hitlers Bruch seiner Verträge mit Stalin.

Ja. Zugleich ist es aber auch Endpunkt einer längeren Entwicklung. Einerseits ist das Stalin-Regime ambivalent in seiner Haltung zu Hitler, der bis 1933 als Feindbild aufgebaut wird, danach wieder als salonfähig gilt und erst mit Kriegsbeginn wieder als Gegner und Gefahr. Andererseits verändert sich die Nationalitätenpolitik bereits mit der Verfassung von 1936, in der es heißt, der Sozialismus habe gesiegt. Damit wird die bisher geübte sprachpolitische Rücksichtnahme überflüssig. In der Folge werden sämtliche deutschen Rayons aufgelöst, und zum Beispiel die Krimdeutschen werden schon ab 1938 erst in den Nordkaukasus umgesiedelt, dann nach Kasachstan – alles unter Geheimhaltung, nichts davon findet sich in den Zeitungen. Übrig bleibt nur die Wolga-Republik. Die ist so wahrnehmbar und so bekannt, dass es für deren Auflösung eines offiziellen Akts bedarf.

Hat diese Auflösung eine Rolle gespielt für die Spätaussiedler, von denen viele hier in Bremen und in Nordwestdeutschland gelandet sind?

Eine sehr große: Es hatte unter Gorbatschow und Boris Jelzin große Hoffnungen auf eine Wiedergeburt der Wolgarepublik gegeben, das war eine echte politische Bewegung. Als Jelzin denen dann einen Truppenübungsplatz zur Neugründung anbot, wurde das als Verhöhnung verstanden: Der Verlust dieser Hoffnung war für viele Anlass zum Aufbruch.

interview: bes

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen