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Steine, die sprechenDas Rätsel des großen Findlings

Hamburger Kunsträume

von Hajo SchiFf

Eckig oder rund, klein oder groß – ein Tisch ist ein Tisch. Auf einen niedrigen Tisch kann man sich setzen. Aber ist das dann ein Stuhl? Der griechische Philosoph Platon entwickelte die Idee der Urbilder, an denen wir die alltäglichen Erscheinungen messen und dann Bescheid wissen: Da sitzt jemand auf dem Tisch.

So einfach ist es im Leben nicht immer und in der Kunst fast nie. Man kommt in einen Raum, sieht manches und fragt sich, was ist das bloß? Das geht oft auch Menschen so, die sich Jahrzehnte mit der Kunst befassen. Es ist anstrengend, aus den schon lange nicht mehr von allein redenden Dingen der Kunst Bedeutung herauszuarbeiten.

Ein besonders krasser Fall ist am Sonntag bei Soltau zu bestaunen: Eingeweiht wird ein ganz normaler Findling an einem Bach beim Dorf Hartböhn. Nichts, wirklich gar nichts deutet darauf hin, dass dieser Stein vom Berliner Netzaktivisten Aram Bartholl etwas Besonders ist. Erst wenn jemand darunter ein kleines Feuer entfacht, werden ein thermoelektrischer Generator und ein WLAN-Router im Inneren aktiviert und man erhält per Smartphone oder Laptop Zugriff auf eine elektronische Bibliothek von Hunderten von digitalen Büchern mit Überlebensratgebern aller Art.

Wer Informationen so vor der Gegenwart versteckt, um sie in die Zukunft zu retten, der glaubt sicher auch, dass alle Rätsel dieser Welt in einem Papyrus erklärt werden, der unter der Sphinx von Gizeh verborgen ist. Was sich wohl sonst noch in scheinbar ganz gewöhnlichen Gegenständen verbirgt? Immerhin wurde schon einiges Überraschendes gefunden: ein Jahrtausende altes assyrisches Tongefäß mit Kupfer-, Bitumen- und Eisenresten stellt sich als frühe technische Galvanisierungsmaschine heraus oder ein rostiger Klumpen aus einer gesunken griechischen Galeere als hochpräzises nautisches Instrument. Der Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg hat einmal gesagt: „Die Dinge haben nicht aufgehört zu sprechen, wir haben aufgehört, ihnen zuzuhören.“ Das gilt wohl in der Lüneburger Heide oder in jeder Galerie oder jedem Museum. Selbst wenn Leute, die mit Steinen kommunizieren, sicher zu jeder Zeit als etwas seltsam gelten.

„Keepalive“. Eröffnung Sonntag, 30. August, 11 Uhr. Treffpunkt: Kunstverein Springhornhof, Tiefe Straße 4, Neuenkirchen, www.springhornhof.de

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