Die Sommer der Liebe 2015, die letzten glühend heißen Nächte, ein Kater nach nur zwei Bieren und der große Regen
: Fast wie in Frisco ’67. Aber eben nur fast

Ausgehen und Rumstehen

von René Hamann

Weit nach Mitternacht sitzen junge Menschen auf den Gehsteigkanten, auf der Ver­kehrs­insel und unter dem Pilz, der eigentlich eine Litfaßsäule ist und zu der Kindereinrichtung auf dem Platz gehört. Sie haben sich in den anliegenden Spätis mit Flaschenbier eingedeckt und unterhalten sich in einer der letzten dieser glühenden Sommernächte, ein langer, endloser Sommer, ein Sommer der Liebe 2015.

Fast wie damals in Frisco ‚67. Obwohl, der Unterschied ist, die Jugend von heute meint nur sich selbst und den Sommer und nicht viel mehr (nicht einmal die Liebe): Ob Drogen eingeworfen werden, weiß man nicht, aber Musik gibt es keine, und wenn, ist sie nichts Besonderes, und Politik findet höchstens am Rande statt. Migranten findet man hier zum Beispiel nicht, auch wenn alles sehr international anmutet.

Belgier sind schlauer

Aber ja: Der Reuterkiez in Nordneukölln ist ein neues Village; und der Reuterplatz ist der Hot­spot im Village. Die Mieten ringsherum sind billiger als in Kalifornien, NYC, London oder Paris; der Trick ist, das wissen auch die zugezogenen Deutschen: In Berlin wohnen und das Geld irgendwo anders verdienen. Können aber auch nicht alle, zum Beispiel ich nicht (jedenfalls nicht komplett) und die Spanier, die herkommen, meistens auch nicht.

Wir stellen uns dazu, in dieser tropischen Freitagnacht, ein Niederländer auf Besuch, zwei Freunde und ich. Wir heben den Altersdurchschnitt, sind aber noch auf jugendlich getrimmt, fallen also nicht groß auf. Der Niederländer kommt aus Amsterdam und ist verwirrt, dass ich ein kleines Schulniederländisch beherrsche. Aber schließlich komme ich vom Niederrhein, eine Fahrradfahrt vom nächsten Coffee Shop entfernt. Seine Freundin ist Belgierin und die ehemalige Kommilitonin des Freundes des Freundes, weswegen er überhaupt hier ist. Auf einem Wochenendtrip. Und wie kommt es, dass er mit einer Belgierin zusammen ist? Im holländischen Fernsehen gibt es Buchstabierwettbewerbe, erzählt er, wie in Amerika, und am Ende gewinnen immer die Belgier. Die sind einfach schlauer.

Sich irgendwo drinnen aufzuhalten, wäre blöd. Der Späti vor meiner Haustür macht trotzdem schon um Mitternacht dicht. Der Damensalon jenseits des Reuterparks hat auch spät noch Außengastronomie, dazu gutes tschechisches Bier und einen billigen Kickertisch, an dem finden wir uns Samstagabend ein. Was die sehr schlichte Housemusik aus der Dose soll, die hier läuft und sehr nach späten Neunzigern klingt, wo sie auch schon nicht besonders aufregend war, und die sich in den zwei Stunden auch nicht groß ändert, ist uns zwar schleierhaft, aber egal.

Der Unterschied zu unseren Sommern der Jugend macht sich am nächsten Morgen, dem Morgen des Sonntagdienstes, bemerkbar: Zwei Bier, ein großes und ein kleines, und schon gibt es Katergefühle.

Meine Reise- und Zielgruppe war noch weitergezogen, ins Bier & Birgit, und am Ende der Nacht standen sie vor dem alten Mysliwska an der Schlesischen Straße, in dem um 5 Uhr morgens sogar getanzt wurde. Ich lag da schon in wildesten Träumen, aus denen ich kurz darauf jäh gerissen wurde.

Der große Regen kam dann erst am Sonntagabend. Da war die Schlange vor der Eisdiele in der Friedelstraße schon kleiner geworden. Die Restaurants zogen die Markisen ein. Die Leute im Park packten ihre Sachen. Heute Morgen sollte wieder der Ernst des Lebens beginnen, beim Frühsport, in der U-Bahn, im Working Space, im Fernbus.