Berliner Szenen
: Die Kapitulation

Kurz vorm Rauschen

Es ist so angenehm und erwartbar deutsch hier

Auf dem Weg nach Karlshorst. Sicher, man kann die Strecke von Neukölln aus auch mit dem Fahrrad fahren, sie ist auf der anderen Spreeseite sogar recht lieblich gestaltet. Aber ja, manchmal ist man eben faul oder das Wetter ist zu schlecht oder es kommt einem viel zu weit vor, und dann fährt man eben mit Bus und Bahn.

Ohnehin ist die Stimmung gerade nicht so toll. Ich sitze erst im Bus, klettere dann über die laufende Baustelle am Ostkreuz und steige schließlich in die S-Bahn nach Erkner. Verstopfung?, fragt eine von diesen Wandanzeigen. Nein, nur Panik, antworte ich im Stillen. Reste der Wut, die verwertet werden, die ganz allgemeine Angst vor dem Sterben, das viel zu lange Warten.

In Karlshorst gehe ich mit meiner Verabredung, die für all das gar nichts kann, lecker essen. In der Pizzeria am Ortseingang – übrigens durchaus empfehlenswert. Die Kellner beeilen sich, ihr Touristenfänger-Italienisch an die Signora und den Signore zu bringen. In den Toi­lettenräumen, kurz vorm Rauschen, singt Gianna Nannini durch die kleinen Deckenlautsprecher. Powerschlussakkord, als ich gerade die Klospülung betätigte. Es ist so angenehm und erwartbar deutsch hier.

Ich beruhige mich, allmählich. Meine Verabredung trägt ein weißes, ungebügeltes Herrenhemd, das ihr sehr gut steht. Bei Frauen sehen ungebügelte Hemden meist gut aus, bei Männern nicht. Wir tauschen diverse Familiengeschichten aus, alle recht krank, aber mit Tendenz zur Hoffnung.

In der Nähe ihrer Wohnung befindet sich das Deutsch-Russische Museum, der Ort, an dem die Kapitulation unterzeichnet wurde, damals 1945 in einer lauen Mainacht. In der Nacht schläft eine Katze auf meinem Bauch. Ich glaube, ich bin für heute angekommen.

René Hamann