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ELEKTRONISCHE MUSIK Blätterrauschen, Luftströme, ins Leere klingelnde Telefone: Die Musikerin Christina Nemec alias Chra erschafft von Menschen verlassene Orte in ihren Klangszenografien neuDie Poesie des Verfalls ausforschen

„Eher so ein Lo-Fi-Typ“: Christina Nemec alias Chra Foto: Christian König

von Franziska Buhre

Einen Zaun überwinden, unwegsames Gelände betreten, über Schutt steigen, sich einen Weg durch dichtes Gestrüpp bahnen, um schließlich Zeuge eines Gebäudes zu werden, dessen Funktion seit langer Zeit erloschen, seine Substanz inzwischen anderen Einwirkungen ausgesetzt ist als jenen des Menschen: Verlassene Architekturen bergen den Widerhall vormaliger Betriebsamkeit und sind zugleich Behausungen organischer Materie, die auf Oberflächen wuchert, Wurzeln ins Gestein schlägt und als poröse Hülle freigibt für die Luftströme von Wind und die Wasserpfade von Rinnsalen.

Die Wiener Elektronikmusikerin Christina Nemec kreiert Raumgebilde aus Klängen, sie lässt Industrieruinen wiederaufleben. Von ihrem aktuellen Album, „Empty Airport“, schallen urbane Einöden, von Menschen kontaminierte Landschaften und vergangene Klang­sphären industriell bestimmter Arbeitsrhythmen. Nemec evoziert die Poesie des Verfalls mitnichten durch die Wiedergabe real existierender Geräuschkulissen. Ihre Stücke sind aus einer Überfülle an Klangmaterial extrahiert und verdichtet. Seit 15 Jahren lauscht sie ihrer Umgebung auf Streifzügen Laute ab oder fängt sie bei zeitaufwendigen Aufenthalten an einem Ort ein; inzwischen hat sie beträchtliche Kataloge davon angelegt.

Am liebsten macht sie Aufnahmen im Hornerwald, etwa eine Autostunde von Wien entfernt im Waldviertel. „Wenn es stürmt und die riesigen Bäume in sich schwingen, nehme ich mindestens zwanzig Minuten auf“, erzählt Nemec am Telefon in der Küche des alten Bauernhauses, das sie gemeinsam mit ihrem Freund renoviert. „Manche Dinge passieren nur ein Mal, wenn der eine Baum plötzlich knarrt zum Beispiel. Ich weiß dann, jetzt ist der Moment, der mich am meisten interessiert. Ich notiere mir die Uhrzeit und mache Notizen. So kann ich die Passage später gezielt auswählen. Je gründlicher und systematischer du beim Field Recording vorgehst oder dabei bist, Soundquellen auszuforschen, desto einfacher wird die spätere Umsetzung.“

Geduldig und akribisch wählt Nemec die „Partikel“ aus, wie sie die kleinen Soundeinheiten nennt, versieht sie mit Effekten, schichtet und verzahnt sie, gibt ihnen Raum und verschiedene Lautstärken. „Ich bin eher so ein Lo-Fi-Typ. Meine Produktionen sind ein bisschen ungenau und immer ein wenig trotzig und dreckig.“ Mit „Empty Airport“ begann Nemec nach dem 11. September 2001. „Ein Flughafen war bis dato ein Ort der Verlockung. Ich habe ihn mir als riesige Insel in der Großstadt vorgestellt, der plötzlich geräumt wird. Irgendwo läutet noch ein Telefon, aber natürlich hebt niemand ab. Diese Stadt in der Stadt implodiert.“

Nemecs Bewegungsradius war nicht immer so weit ausgedehnt wie heute. Geboren und aufgewachsen ist sie in Villach im Bundesland Kärnten. Anfang der 1980er Jahre ist sie 14 und färbt sich die Haare violett. „Meine Eltern haben’s mir erlaubt, aber alle anderen haben total blöd reagiert“, erinnert sie sich. „Ich wusste von einem besetzten Haus in Wien, und da bin ich halt hin. Irgendwann wurde ich erwischt, kam wieder nach Hause, dann bin ich halt wieder hin.“

Die Staatsanwaltschaft Klagenfurt entzieht den Eltern das Sorgerecht für ihre Tochter, Christina muss in ein Erziehungsheim nach Linz. Sie wird in der Kinderpsychiatrie untersucht – so wenig vorstellbar ist das im Österreich jener Jahre, dass ein Mädchen schlicht freiheitsliebend ist. Der Zwangsauf­enthalt in Linz ist nach einem halben Jahr vorbei, mit 17 geht Nemec endgültig nach Wien. „Hier gab es eine kleine vitale Punk- und Undergroundszene. Die musikalischen Genres waren damals noch nicht so spezifiziert wie heute. Alles war möglich – Punk, Rock, Heavy Metal, Synthesizer-Musik, Free Jazz .“

Role Model Kim Gordon

Nemec entdeckt Musikerinnen wie Joan Jett, Lydia Lunch, Siouxsie Sioux oder Kim Gordon für sich: „Diese starken Frauen habe ich Anfang der Achtziger für mich als Role Model wahrgenommen. Ohne sie würde ich ja gar nicht selber Musik machen.“ Seit dreißig Jahren spielt sie mittlerweile E-Bass, seit 2002 in der Band SV Damenkraft, seit 2013 im Noise-Trio Shampoo Boy mit dem Label-Betreiber Peter Rehberg, Garant für elektronische Musik erster Güte, und dem Musikjournalisten Christian Schachinger auf diversen Saiteninstrumenten.

In ihrem Alias Chra hat sie ihren Vornamen auf eine geschlechteruneindeutige Silbe komprimiert. Chra, sagt sie, hat mehr Freiheiten als Christina: „Als Künstlerin muss ich nicht alles in die Waagschale legen. Wenn mich ein Veranstalter oder Tontechniker schlecht behandelt, was schon öfter vorgekommen ist, kann ich total rigide sein und einfordern, was ich brauche.“

Akribisch wählt Nemec die Sound-Partikel aus, versieht sie mit Effekten, schichtet sie und gibt ihnen Lautstärken

Form der Selbstbehauptung

Vor sechs Jahren gründete Nemec ihr eigenes Plattenlabel Comfortzone, das, wie andere Wiener Labels auch, eine queer-feministische Haltung vertritt. „Das Label ist eine Form von Selbstermächtigung und auch Selbstbehauptung. Ich möchte eine Solidargemeinschaft bieten: Ab der Aufnahme mache ich Öffentlichkeitsarbeit für die KünstlerInnen, zum Teil auch Booking und organisiere Kooperationen, für die anderen Labels mache ich Remixes und versuche für alle mehr Aufmerksamkeit zu erreichen.“

Kooperationen sind ein wichtiges Stichwort. Mit Patricia Enigl alias Irradiation, Gründerin von TEMP-Records, spielt Nemec im Duo Pasajera Oscura Synthesizer und Laptops. Die Bandkollegin von SV Damenkraft, Eva Jantschitsch alias Gustav, hatte die Idee für ein neues Projekt: Sie, Chra, Irradiation und die Elektronikmusikerin und Sängerin Karin Fisslthaler aka Cherry Sunkist werden sich im Herbst der lange verkannten Dada-Künstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven (1874–1927) widmen, die EP erscheint natürlich auf Comfortzone.

Mädchen und jungen Frauen zeigt Nemec in Workshops beim Girls Rock Camp, das von pink noise, einer Plattform zur Förderung feministisch-popkultureller Projekte, veranstaltet wird, wie sie mit einfachen Mitteln auf dem Smarthone und Laptop elektronische Musik machen können. „Dafür braucht man nicht die teuren Geräte, die den Diskurs um elektronische Musik wieder dominieren“, sagt Nemec entschieden. Lo-Fi halt.

Chra: Empty Airport,Editions Mego 208; Chra/Sonae: ShirleyM EP, Comfortzone 023; Shampoo Boy: Crack, Blackest Ever Black 039

Chra liveam 20. August beim Berliner Atonal-Festiva. www.berlin-atonal.com

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