Steilküsten-Sound

Vorbei an schroffen Kliffformationen, wo der Blick abstürzt. Und nirgends ein Geländer, ein Warnschild. Vorbei an König Arthurs Burg. Eine Wanderung entlang dem South West Peninsula Coast Path im britischen Cornwall. Die See im Ohr

Die brandende Dünung schlägt einen unterweltlichen Ton an

von BERND HANS MARTENS

Stille Tage sind hier selten. Die See wirft sich gegen die Steilküste. Gischt fliegt hoch mit den Möwen auf. Die Klifflandschaft in Cornwalls Norden hat ihren eigenen Sound. Nur der Atlantik weit draußen erinnert an Ferienruhe und Beschaulichkeit, als wäre das Getose direkt unter einem nur Kulisse. Mit dem 5-Tage-Gepäck auf dem Rücken wandere ich den South West Peninsula Coast Path entlang. Ein schmaler Weg durchs Grasland, der keinen Felsvorsprung auslässt. Und manchmal dicht am Grusel vorbeiführt. Nirgends ein Geländer, kein Warnschild.

Von der Widemouthbay geht es in südwestliche Richtung. Oben links die Sonne, unten rechts ein Streifen aus Fels, dahinter das Meer. Wie von einem Kinderbild abgeguckt. Den nächsten Klippenvorsprung nehme ich mir als Rastplatz. Schaue zu, wie die Wogen in die Felshöhlen schwappen und gleich wieder herausspringen. Eine Wasserorgel, basstönig. Manchmal klingt es wie ein unterdrücktes Rufen. Der Wind pfeift über Kanten und Schroffen. Riesige Mantelmöwen kontrollieren im Gleitflug die Gegend und geben ihren Senf dazu.

Wenige Leute sind auf dem Long Distance Footpath unterwegs. Man grüßt, man tauscht sich aus. Bei Sharpnose vor der Klippe seien Delfine gesichtet worden. Und das Landgasthaus Hansom Cab bei Pentire – just smassing! Besonders die Taschenkrebse, blassrosa gekocht auf Spinat gebettet. Und erst der Cornish-Country-Stil. Mehr wird nicht verraten.

Spät nachmittags erreiche ich Boscastle. Ein hübscher Weiler mit einem kleinen, felsgeschützten Naturhafen. Ein paar Fischerboote liegen trockengefallen auf Grund. Jemand hantiert an Deck seines Bootes. Ich frage nach einem Guest House, möglichst in Hafennähe. Der Mann zeigt auf das Haus am Kai, aus grauem Kliffstein gebaut wie fast alles hier. „Open at 5 o’clock, mind you!“, ruft der Schiffer. Während ich mich am Hafen umschaue, strömt die See ein. Lange dauert es nicht, da schwimmen die Boote wieder. Und mit der Flut kommt Leben auf. Am Hafen triffst du, wen immer du suchst, heißt es hier an der Küste. Später treffe ich den Mann vom Boot vor dem Guest House wieder. Er ist der Warden, und das Guest House, ein ehemaliger Speicher, ist schon lange eine Jugendherberge. Klein, rustikal, genau richtig für eine Übernachtung, doch ich habe keinen JH-Ausweis. „Don’t mind“, sagt der Warden und bittet um 11 Pfund Sterling.

Viel los ist nicht. Mit zwei Londoner Backpackers komme ich ins Gespräch, sie haben das Dartmoor durchwandert. Abends vor dem Haus am Kai setzt sich der Warden dazu. Wir fangen noch etwas Sonne ein, bevor die Strahlen sich an der Kliffkante brechen, noch einmal aufflackern und uns im Schatten sitzen lassen. Der Warden ist Krebsfischer im Nebenerwerb, in den Monaten mit einem „r“ am Ende ist Fangzeit. Nur dann sind die Taschenkrebse voll im Fleisch. Es passt auch zeitlich gut zu seinem Saisonjob als Warden. Die Krebsbestände aber sind rückläufig. Zu vergangenen Zeiten, sagte er, da wurden die Naturhäfen von Freibeutern für ganz besondere Zwecke benutzt. Nachts, bei schwerer See, wenn die Mannschaft der Frachtsegler verzweifelt nach Schutzhäfen Ausschau hielt, setzten Kaperer Irrlichter auf die Klippen. Eine Zuflucht wurde den Seefahrern nur vorgetäuscht. Wenn die Schiffe nicht vorher auf Untiefen festkamen, wurden sie in die Räuberbucht gelockt und von den Kliffpiraten aufgebracht. „People have hardly changed since“, sagt der Warden und wünscht uns eine gute Nacht.

Am nächsten Morgen früh los. Der Wind hält sich noch zurück. Hin und wieder liegen kleine Sandbuchten einladend am Klifffuß. Die Dünung wäscht unermüdlich den Strand weiß. Leider verhindern die Steilhänge den Zutritt. Aber nicht immer. Kurz vor Tintagel, dort wo König Arthur, Ritter der Tafelrunde, von den Wellen an Land geworfen worden sein soll, nehme ich ein Bad in der Einsamkeit. Die brandende Dünung schlägt einen nie gehörten, unterweltlichen Ton an. Auch Orpheus hätte seine Freude gehabt. König Arthurs Burg ist eher die Ruine einer Ruine. Wird aber gut besucht, es geht um „national history“. Hinter einem Parkplatz, auf einem Felsvorsprung, zeigen Silbermöwen neue Tricks. Sie lassen gezielt Muscheln aufs Gestein fallen und picken sich dann das Fleisch heraus.

Nach einer guten Wanderstunde bei wechselnden Wolkenformationen unter einem leicht glitzernden Atlantik, nähere ich mich wieder einem Menschen. Der steht unbeweglich an einer Felskante, kaum dass er das Fernglas von den Augen nimmt. Der Mann ist Vogelzähler. Einmal im Jahr werden die Felsenbrüter, wie Papageientaucher, Trottellummen, Basstölpel gezählt. Die jungen Seevögel hocken in Nischen und auf Felsvorsprüngen in den Brutkolonien. Ein idealer, für Menschen unzugänglicher Platz. Kommen die Altvögel mit frisch gefangenem Seefisch in die Felsen eingeflogen, setzt ein gewaltiges Schreien ein. Als ginge es um ihr Leben. Und genau darum geht es. Die Jungen brauchen viel Energie für die bevorstehende Überwinterung auf See. Dem Vogelzähler gefällt nicht, dass ich zuschaue. Er signalisiert mir weiterzugehen. „Make off“, ruft er und sieht mich zum ersten Mal an. „Go to Minack!“

Minack? Was auch immer, mir reicht’s. Bedeckt ist der Himmel am nächsten Tag. Auch der Blick über Meer und Land reicht nicht weit. Im Guest House in Port Isaac gibt es ein ausgedehntes Frühstück, das soll für den Tag halten. Mittags erreiche ich die Wasserscheide, ein tief ins Land ziehender Flussfjord. Von Wadebridge mit den Überlandbus bin ich abends in Cornwalls südwestlicher Ecke. Weiter geht’s am nächsten Morgen auf dem South West Peninsula Coast Path. Von der Atlantikküste nähere ich mich dem Englischen Kanal. Überrascht bin ich doch, es gerade hier, in die Felsen der Steilküste gehauen, zu finden: das Minack-Theatre. Eine Freilichtbühne mit Meeresblick. Wie geschaffen für Shakespeare und Co. Doch so war es nicht immer. Eine Laienschauspielgruppe aus der Gegend suchte einen neuen Aufführungsplatz. Die Organisatorin Rowena Cade fand ihn in ihrem Garten oberhalb der Klippe. Man begann über die Jahre, Terrassen für die Sitzplätze in den Felsen zu fräsen. Auch an den schwierigsten Stellen. Oder setzte etwas dazu. Mit steigender Bekanntheit, die Londoner Times hatte einen begeisterten Artikel geschrieben, stieg die Zahl der Plätze und der Zuschauer. Bei Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde aus dem einmaligen Theater ein Flak-Beobachtungsposten und vieles verkam. Erst zehn Jahre später begann Rowena Cade weiterzumachen. Aus einem Unterstand entstand das Kassenhäuschen. Die Bühne am Abgrund wurde mit einer Steinbalustrade für die Schauspieler gesichert. Scheinwerfer und Lautsprecher kamen hinzu. Bis heute ist das Minack ein Ereignis. Die Zuschauer kommen rechtzeitig, bringen Sitzkissen mit – Platzreservierungen gibt es nicht – Decken, Lunchpakete, Flaschenwein, ja Gläser dazu.

Während der Sommermonate gibt es Dramen, Komödien, avantgardistisches Theater. Nicht nur Shakespeare, Wilde oder Jane Austen werden von wechselnden britischen Gastensembles aufgeführt. So ist in diesem Jahr auch „Peter Pan“ dabei, ein Musical. Das Bühnenbild stellt die Steilküstenlandschaft, die Kulisse aber ändert sich. Manchmal rapide. Dann kann es passieren, dass in den „Sommernachtstraum“ ein atlantischer Sturmausläufer hineinpeitscht. Die Schauspieler müssen nun kräftig ihre Stimmen heben, ziehen sich Wetterzeug über, als wäre es eine Regieanweisung.

Am Ende des fünften Tages stehe ich wieder im Flachen, auf dem Busbahnhof von Plymouth. Noch eine Ahnung vom Steilküsten-Sound im Ohr. Bis der Bus kommt.