Berliner Szenen
: Erst Bier, dann Spumante

Der Malstrom

Die ganze Szene hat etwas von einer Naturkatastrophe

Ich hatte ja keine Ahnung, dass Berlin bei Nacht so aussehen kann! Auf dem Heimweg radele ich seit langer, langer Zeit mal wieder die alte Warschauer Straße runter. Es ist Sommer, Wochenende, Mitternacht, und ab der Boxhagener Straße wird es laut. Laut im Sinne von einem ununterbrochenen, modulierten Grölen, das mal sehr laut, mal geringfügig weniger laut ist. Je nachdem, wie der heute Nacht sehr starke Wind steht.

Ab Kopernikusstraße beginnt der Bürgersteig zu glänzen, als sei er mit Diamanten bedeckt. Das sind die Scherben zerborstener Flaschen, vordem mit lauwarmem Bier, Wein oder Prosecco gefüllt, bevor sie ausgetrunken waren und jemandem aus der Hand gerutscht sind. Auf dem Bürgersteig wird es ab der Revaler Straße immer voller von den Menschen, denen diese Flaschen entglitten sind. Die sich aber aus dem nächsten Späti schon mit Nachschub in Form von noch mehr Jägermeister, noch mehr Sterni oder noch mehr Spumante eingedeckt haben. Ein Glück, dass ich hier nicht leben muss.

Die ganze Szene hat etwas von einer Naturkatastrophe. Ab der Warschauer Brücke verdichten sich die Körper der Gehbier-Träger zu einem einzigen unförmigen, mäandernden Malstrom aus Flaschen, Basecaps, Sweatpants, übergroßen Labber-T-Shirts, Tätowierungen, Vollbärten, Wampen. Aus dem Dunkel leuchten hin und wieder erhitzt wirkende Gesichter im Schein von Smartphone-Displays auf. Dieser Menschenwurm drängt auf der Warschauer Brücke über die Spree, ergießt sich dann in die Falckensteinstraße, die Skalitzer und die Schlesische Straße und trudelt dort langsam aus wie ein Gletscher, der das Tal erreicht hat.

Nie hätte ich gedacht, dass mir die glücklich erreichte Weserstraße mal wie ein verhältnismäßig ruhiges Pflaster vorkommen würde.

Tilman Baumgärtel