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Unter Obstbäumen

Literaturfestival In der Uckermark kamen sich Literaturszene und Publikum nah wie nie

Zigarettenautomat, Garage, Töpferei und Dorfarchiv – in Saša Stanišić’Kopf ist in Fürstenwerder noch alles genau so, wie er es in seinem Uckermark-Epos „Vor dem Fest“, mit dem er 2014 den Leipziger Buchpreis gewann, besungen hat. Beim „Wortgarten“-Festival am Wochenende, das dieses Jahr zum ersten Mal stattfand, führte Stanišić seine Leser durch das echte Fürstenwerder und ließ das fiktive Fürstenfelde vor ihren Augen entstehen.

Immer wieder zeigte er ins Leere und beschrieb eindringlich, dass dort Anna Kranz’ prächtiger Hof zu sehen und man hier nun an der Stelle angekommen sei, wo die alte Malerin in den See geht. Den Zigarettenautomaten, den Herr Schramm erst erschießt und dann mit einem Traktor ausreißt, vermutet er neben der Pension „Alte Molkerei“. Als Stanišić mit seinem Gefolge unangekündigt in der alten Schmiede, in der Annett Schröder ihre Töpferei eingerichtet hat, einfällt, ruft er ihr lachend entgegen: „Hallo Annett, ich habe mal so eben neunzig Leute mitgebracht.“

Ein Satz, den man auf das gesamte Sommerfest für Literatur und Musik übertragen kann, zu dessen Höhepunkten Stanišić’Ortsführung gehörte. Denn irgendwie hatte jeder noch jemanden im Schlepptau, um in der Uckermark ein entspanntes Wochenende zu verbringen. Bei bestem Badewetter kamen über 600 Besucher, die die Literatur zumindest zeitweise dem See vorzogen und unter dem Rauschen der Obstbäume zahlreiche Autoren hautnah erlebten.

Allein das Line-up des vom Künstlerverein KOOK e. V. organisierten „Wortgartens“ ließ jedes Literaturherz höher schlagen. Moderiert von der Kritikerin Verena Auffermann sowie den Verlegern Jörg Sundermeier (Verbrecher Verlag) und Daniel Beskos (mairisch verlag) lasen mit Jan Wagner, Saša Stanišić, Georg Klein und Ingo Schulze gleich vier Gewinner des Leipziger Buchpreises. Kathrin Schmidt führte die Riege der fünf Bachmann-Preisträger unter den 20 Autoren an, zu denen noch Jan Peter Bremer, Georg Klein, Katja Lange-Müller und Tilman Rammstedt gehörten. Dazu gesellten sich Karsten Krampitz, der 2009 den Bachmann-Publikumspreis gewann, sowie Karen Köhler, deren Erzählungsband „Wir haben Raketen geangelt“ zu einem der meistgefeierten Bücher der letzten Zeit avancierte.

Bei so viel Bachmann wundert es nicht, dass im „Wortgarten“ neben Auszügen aus aktuellen Werken – „Mädchenbeute“ von Kirsten Fuchs oder „Wir sind jetzt hier“ von Tom Schulz (und Björn Kuhligk) – auch viele noch unveröffentlichte Texte vorgestellt wurden. Katja Lange-Müller las erstmals aus ihrem im Herbst 2016 erscheinenden Roman „Drehtür“. Saša Stanišić trug zwei Erzählungen vor, die ebenfalls 2016 erscheinen sollen, und auch Kathrin Schmidt, Ingo Schulze und Karen Köhler reisten mit neuen Texten an.

In Erinnerung bleiben wird der „Wortgarten“ aber auch aufgrund der intimen Atmosphäre. Selten dürften sich Literaturszene und Publikum unbefangener so nahe gekommen sein wie an diesem Wochenende auf Gut Bülowssiege. Künstler, Verleger und Besucher feierten abseits des Großstadtlärms ein Familienfest im Grünen, das geprägt war von sonniger Leichtigkeit und stiller Landromantik. Sie lagen barfuß auf der Wiese, verfolgten, mit einem Glas Apfelwein in der Hand, gemeinsam die Lesungen und kamen miteinander ins Gespräch. Am Ende blieb bei Besuchern und Veranstaltern der einhellige Wunsch, das Festival möge eine zweite Auflage finden. Es wäre die Fortsetzung eines Sommernachtstraums.

Thomas Hummitzsch

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