KRISE Frankreichs „bestürzte Ökonomen“ veröffentlichen ihr zweites Manifest zur ökonomischen Misere
: Alternativen zur neoliberalen Sekte

Im Oktober 2010 sorgte in Frankreich ein „Manifest bestürzter Ökonomen“ („Manifeste d’économistes atterrés“) für Furore. Bestürzt waren die außerhalb der Fachwelt unbekannten Ökonomen darüber, dass sie in der Wirtschaftspresse und in den Talkshows die gleichen alten Gemeinplätze und „Denkschablonen der neoliberalen Orthodoxie“ zu lesen und zu hören bekamen. Und noch empörender war für sie, dass das alles auch unter der Flagge „Wissenschaft“ auftrat und die Realität – die „Macht der Finanzmärkte“ und global agierender Konzerne – immer ausgeblendet bliebe.

Das „Manifest“ wurde schnell von 700 Ökonomen und Sozialwissenschaftlern unterzeichnet und in kurzer Zeit über 100.000 Mal verkauft. Es analysierte und kritisierte zehn ökonomisch „falsche Gemeinplätze“. Ein Einwand gegen das Manifest lautete damals, dass es nur wenige ­Alternativvorschläge enthalte. Auf diese Kritik reagiert das eben erschienene „Neue Manifest der bestürzten Ökonomen“. Es beschreibt „15 Baustellen für eine andere Ökonomie“.

Gleich im ersten Kapitel machen die Autoren deutlich, dass es ihnen nicht um eine „Rückkehr zu“, sondern „um eine Flucht nach vorn“ – heraus aus der „globalen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Krise“ geht. Die Autoren berufen sich auf fünf starke normative Grundlagen ihrer Argumentation: den Vorrang der Demokratie vor dem Markt, die Untrennbarkeit von Demokratie und Gleichheit, den Ausgleich des Verhältnisses von Markt, Privat­initiative und politischem Handeln, den solidarischen Umgang mit gemeinschaftlichen Gütern sowie die Umstellung von Produktion und Konsum auf ökologisch vertretbare Standards. Letztlich plädieren die Autoren für nichts Geringeres als neue Arbeits- und Lebensformen auf der Basis dieser fünf Grundsätze. Ohne eine „tiefgreifende Umwandlung unserer Produktionsweise und unseres Konsumverhaltens“ sind natürliche Ressourcen, Biodiversität und Klima nicht zu retten. Deshalb halten die Autoren eine ökologisch fundierte Besteuerung für unumgänglich, denn die Regulierung über den Markt habe sich als eine Luftnummer erwiesen. Die Autoren empfehlen eine Öko-Steuer von 3 Prozent auf alle in der EU erzeugten Produkte (was jährlich etwa 350 Milliarden Euro einbrächte).

Mit der entschieden normativen Ausrichtung des Manifests handeln sich die Autoren freilich das Problem ein, dass die Schwierigkeiten und Tücken auf dem Weg von der Norm zu ihrer praktischen Umsetzung ausgeblendet werden. Die These, wonach „Gleichheit das Herz der Wirtschaft“ bilde, leuchtet ebenso ein wie jene, dass ­„Ungleichheit ökonomisch unrentabel“ sei. Wenn der Zugang zu Bildung und Ausbildung für Kinder, Jugendliche und Frauen von Ungleichheit geprägt ist, sind die Folgekosten für die Beseitigung von Defiziten höher als die Investitionskosten für von Anfang an auf Gleichheit ausgerichtete Politik.

Die neoliberal imprägnierte Wettbewerbsordnung in der EU lässt praktisch keine staatliche Industriepolitik mehr zu. Dem setzen die Autoren ein Konzept entgegen, das mit lokalen, regionalen und nationalen Industriefonds die Re-Industrialisierung „abgewickelter“ Regionen, die Abwehr von Privatisierungen und die Abwanderung von Industrien ermöglicht. Unumgänglich dafür wäre freilich eine Erweiterung der Kompetenzen staatlicher Banken.

Während die neoliberale Orthodoxie seit den 80er Jahren in der „Lohndisziplin“ ein probates Mittel gegen Arbeitslosigkeit sieht, halten die „bestürzten Ökonomen“ diese Politik für rundum gescheitert. Sie treten für hohe Löhne ein, die die Binnennachfrage und damit auch die Wirtschaft fördern. Auch Steuerentlastung und Abgabenbefreiung für Unternehmen haben die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich nicht verringert, kosteten aber den Staat 20 Milliarden Euro im Jahr. Mit gleichen Argumenten rehabilitieren die Ökonomen staatliche Ausgaben als sozial notwendig und produktiv, die den ­Neoliberalen als überflüssig ­gelten.

Das „Neue Manifest“ besticht durch seine klare Sprache und erhebt nicht den Anspruch, die letzte Wahrheit gefunden zu haben. Aber es informiert zuverlässig und argumentiert mit nachvollziehbar gegen die als Selbstverständlichkeiten servierten intellektuellen Zumutungen der neoliberalen ­Orthodoxie. Rudolf Walther

Nouveau manifeste d’ économistes atterrés. Éditions Les liens qui libèrent, Paris 2015, 155 S., 10 Euro