SCHIEDSRICHTERDer passionierte Referee und Autor Christoph Schröder über „Regelpositivismus“, Handspiele, den Videobeweis und die Pläne von Sepp Blatter
: „Die WM war ungeheuerlich“

„Szenen wie auf dem Schulhof“: Der Schiri hat nur wenige Sanktionsmöglich­keiten, einen davon ist die Rote Karte Foto: imago

INTERVIEW Jens Uthoff

taz: Herr Schröder, wenn Sie am Montagmorgen die Zeitung aufschlagen, lesen Sie dann zuerst die Literaturrezensionen oder die Berichte von den Spielen der unteren Ligen?

Christoph Schröder: Letzteres. Wenn ich montags den Computer anmache, lese ich als allererstes die Spielberichte auf den Portalen sämtlicher hessischer Regionalzeitungen – zumindest die der Spiele, bei denen ich oder befreundete Schiedsrichter zum Einsatz kamen. Erst dann lese ich den Perlentaucher.

Nur wenige Schiedsrichter haben es wirklich zu Ruhm gebracht – und wenn, oft zu zweifelhaftem. Hat man als Schiedsrichter Vorbilder, denen man nacheifert?

Im Grunde genommen nicht. Es gibt nicht ein Vorbild, es gibt viele. Man muss erst mal gucken, was für ein Typ man ist und wie man sich auf dem Platz bewegt. Und dann schaut man sich, glaube ich, von vielen etwas ab.

Von wem haben Sie sich vielleicht am meisten abgeguckt?

Der beste Schiedsrichter zu meiner Zeit war sicher der junge Markus Merk, als er mit 26 Jahren in die Bundesliga aufgestiegen ist. Der war konsequent, resolut und hatte ein tolles Auge. Ich fand das bewundernswert, wie er als dürres Männchen so viel Mut bewiesen hat auf dem Platz, zumal mit seiner piepsigen Stimme, die er damals noch hatte – er hatte ja ein Stimmproblem, das er später erst operativ lösen konnte. Aber ich wusste damals auch: Da komme ich nie hin.

Nie?

Wir pfeifen in der Regel auf Sportplätzen vor 200 oder 250 Leuten, da ist man zu weit von einem solchen Niveau entfernt. Das ist nicht vergleichbar mit einem Champions-League-Halb­finale oder so.

Hatten Sie denn nie den Traum, höherklassig zu pfeifen?

Ich glaube, dazu fehlte mir der ganz große Ehrgeiz, denn ich habe zu der Zeit andere Prioritäten gesetzt. Ich habe damals auch noch geraucht. Ich hatte keine Lust aufzuhören. Und ein Laufwunder war ich nie.

Sie schreiben in Ihrem Buch auch von der „Zigarette danach“, die Sie damals noch rauchten. Ist der Moment nach dem Schlusspfiff, wenn man sich in die Schiedsrichterkabine setzt, vergleichbar mit dem Moment, in dem im Thea­ter der Vorhang fällt?

Ja. In diesen Momenten will ich auch ungestört bleiben. Ich habe früher die Kabine abgeschlossen – nicht aus Angst, sondern weil ich das Bedürfnis hatte, meine Ruhe zu haben. Man ist ja vorher emotional extrem aufgeputscht. Das Wort vom „Runterkommen“ passt zu diesem Moment. Und diese Zigarette war früher immer die beste der ganzen Woche.

Sie schildern in Ihrem Buch das Regelwerk, die heilige Schrift, nach der man sich zu richten hat.

Zahlen:Etwa 75.000 Schiedsrichter sind Woche für Woche im Einsatz, damit jährlich 1,5 Millionen Fußballspiele in Deutschland stattfinden können. In den unteren Ligen kommt manchmal nur ein Schiri zum Zug. In der Champions League hingegen mischen sechs Referees mit. Ganz wichtig: der „vierte Offizielle“ und die zwei Torrichter.

Geschichte: In den Anfangsjahren, um 1860, leiteten die Mannschaftsführer beider Teams das Spiel. Der Kapitän der Mannschaft, deren Spieler gegen die Regel verstieß, unterbrach das Spiel und entschied auf Freistoß für den Gegner. Erst 1873 ist der Begriff des Schiedsrichters in die Regeln aufgenommen worden.

Vergütung:Ein Unparteiischer in der Bundesliga erhält eine Pauschale von bis zu 40.000 Euro im Jahr. Zusätzlich erhält er pro Spiel 3.800 Euro in der 1. Liga und 2.000 Euro in der zweiten. In der 3. Liga gibt es keine Grundsicherung und 750 Euro pro Spiel, Assistenten kriegen die Hälfte, vierte Offizielle gibt‘s nicht.

Es ist so: Wir sind dazu gezwungen, ganz fürchterliche Rechtspositivisten zu sein. Wir machen die Regeln nicht; wir sind dazu da, sie umzusetzen. Ein einfaches Beispiel: Es passt keinem von uns Schiedsrichtern – keinem –, dass ein Torhüter, der im eigenen Strafraum einen Spieler foult, die Rote Karte bekommt und zusätzlich noch Elfmeter gepfiffen wird. Man wird keinen Schiedsrichter finden, der diese Doppel- oder Dreifachbestrafung – der Spieler wird ja auch noch gesperrt – gut findet. Aber die Regel gibt uns das vor.

Noch häufiger wird über das Handspiel im Strafraum diskutiert. Ist das eine Regel, bei der man sagen könnte, sie ist nicht genau genug formuliert?

Ja. Bis vor einigen Jahren wurde es anders formuliert, und es funktionierte einigermaßen. In den letzten Jahren kamen so Formulierungen wie „Vergrößerung der Körperfläche“ oder „einen Vorteil aus dem Handspiel ziehen“ dazu. Vorher gab es nur zwei Kriterien: Ist es ein absichtliches Handspiel, und ist die Körperhaltung natürlich oder unnatürlich? Die neuen wachsweichen Kriterien schaffen Verwirrung. An dieser Verunsicherung leiden alle. Die meisten Schiedsrichter pfeifen Handspiel nur noch intuitiv. Ich pfeife es noch genauso wie ich es vor fünf oder zehn Jahren gepfiffen habe.

Wirkt sich das aufs gesamte Spiel aus?

Auf dem Platz wird jetzt ständig Hand geschrien. Wenn früher zehn Mal Hand geschrien wurde, wird heute 50 Mal pro Spiel geschrien. Von draußen und auf dem Platz.

Sehen Sie da Handlungsbedarf?

Die Sache mit dem Handspiel ist gar nicht so leicht zu lösen. Und die Verunsicherung ist jetzt da; es wird Zeit brauchen, bis sie wieder aus der Welt ist. Unklare Formulierungen aber sollte man vermeiden.

Wann ärgern Sie sich noch über getroffene Regeln?

Vor der Saison wurde eine Regel eingeführt, die besagt, dass die Kopfbedeckung die gleiche Farbe haben muss wie das Trikot. Die ist für muslimische Spielerinnen gemacht, die mit Kopftüchern auflaufen. Das hieße aber auch: Wenn ein Torwart eine Kappe aufsetzt, muss die auch die Farbe des Trikots haben. Wenn er keine solche hat, dürfte er nicht spielen. Das ist natürlich ausgemachter Schwachsinn.

Sie sind gegen den Videobeweis im Fußball. Warum?

Generell gibt es kaum einen Schiedsrichter, der gegen technische Hilfsmittel ist. Es hat mir nur nie jemand schlüssig erklärt, wie der Videobeweis in der Praxis funktionieren soll. Es ist die Rede davon, es gäbe für jedes Team dreimal die Möglichkeit, eine Entscheidung überprüfen und das Spiel unterbrechen zu lassen. Die Frage ist aber doch, wie es danach weitergeht. Was ist denn, wenn man Abseits gepfiffen hat, das Spiel unterbricht, und es stellt sich heraus, es war kein Abseits? Der Vorteil ist ja weg. Im Übrigen finde ich Sportarten langweilig, bei denen das Spiel zu oft unterbrochen wird.

„Die meisten Schiedsrichter pfeifen Handspiel nur noch intuitiv. Ich pfeife es wie vor zehn Jahren“

Den Willen, aufzusteigen und die Angst, abzusteigen, ist etwas, das die Schiedsrichter mit den Spielern gemeinsam haben. Wie steigt man denn auf oder ab?

Man wird fünfmal pro Saison in der höchsten Leistungsklasse, in der man pfeift, von Schiedsrichterbeobachtern bewertet. Das sind ehemalige Schiedsrichter. Entsprechend den Noten wird eine Rangliste der Schiedsrichter erstellt. Der mit dem besten Notendurchschnitt oder manchmal auch die beiden besten steigen auf, der oder die schlechtesten ab.

Man bekommt beim Lesen Ihres Buches einen Eindruck davon, wie exakt und genau doch das Schiedsrichterwesen ist. Bei der WM im vergangenen Jahr fiel Ihnen etwa auf, dass ein Schiedsrichter den Elfmeter mit dem falschen Arm angezeigt hat.

Ja, das war der furchterregende Japaner, der das Eröffnungsspiel gepfiffen hat. Uns Schiedsrichtern fällt das auf, weil dabei ersichtlich wird, dass er ein völlig falsches Stellungsspiel hatte. Wenn er das nicht gehabt hätte, hätte er auch nicht so einen Unsinn zusammengepfiffen.

War die ganze Weltmeisterschaft aus Schiedsrichtersicht traumatisch?

Ja, das war so ungeheuerlich, dass man mit den Videos die Lehrgänge der nächsten 20 Jahre bestücken könnte. Es hat teilweise wirklich wehgetan. Es ging eben nicht um Einzelszenen, sondern es hatte System. Es waren Anweisungen, die die Schiedsrichter bekommen haben. Die übelsten Vergehen haben sie laufen lassen. So kam es zu Szenen wie auf dem Schulhof.

Sie sprechen sich gegen die „Dekontingenzierung“ des Fußballs aus – dagegen, dass man den Zufall ganz ausschalten will, und gegen die Gleichmacherei, mit der man zum Beispiel alle Plätze normieren und Witterungseinflüsse minimieren will. Warum?

Ich finde, heute sehen Fußballspiele oft wie Computerspiele aus. Alles soll clean, sauber, fitnessbasiert und sehr technisch sein. Ich mochte einfach Plätze, auf denen man vielleicht auch mal eine Schlammschlacht hatte. Sepp Blatter hat den Satz gesagt: „Kunstrasen ist die Zukunft des Fußballs.“ Das sagt der nicht einfach so. Das wird so kommen. Ich tippe, spätestens zur WM 2026 wird auf Kunstrasen gespielt. Das hat natürlich auch den Effekt, dass man schöne Verträge mit den Herstellern abschließen kann.

Christoph Schröder

Foto: Klett-Cotta

Der 42-Jährige ist freier Autor und Literaturkritiker, unter anderem für den Tagesspiegel, die Zeit und die taz. Jedes Wochenende pfeift er als Schiedsrichter Ober­liga-Spiele in Hessen oder Bayern. Er ist Mitglied im Schiedsrichterausschuss des Hessischen Fußballverbands. Er hat auch ein Buch über die Pfeiferei veröffentlicht: „Ich Pfeife! Aus dem Leben eines Amateurschiedsrichters“, Tropen-Verlag.

Viele sehen die ehrenamtlichen Tätigkeiten im Fußball in Zukunft als gefährdet an. Glauben Sie, dass den Job des Schiedsrichters, der quasi ehrenamtlich ist, bald keiner mehr machen will?

Die Zahl der Schiedsrichter ist rückläufig. Das hat zum einen mit Veränderungen auf den Fußballplätzen zu tun – alles wird weniger persönlich, weniger familiär. Und dann gibt es Entwicklungen, die das Amt als nicht sonderlich attraktiv erscheinen lassen.

Sie spielen auf die Gewalt auf Amateurfußballplätzen an. Bei Ihnen kommt eine solche Erfahrung nur einmal vor.

Ich habe nur diesen einen Gewaltvorfall an mir selbst erlebt [einmal wurde Schröder in einem Spiel von einem Spieler am Trikot gepackt und vor die Brust gestoßen; der hatte ihn zuvor beleidigt und Rot gesehen, Anm. d. A.]. Aber natürlich ist das ein Problem. Darüber muss man sprechen. Ein Kollege von mir ist vor fünf Wochen in der Kreisliga brutal zusammengeschlagen worden, nur weil er eine Rote Karte gezeigt hat. Auf den ist eingeprügelt und eingetreten worden. Die Gewalt hat sich qualitativ geändert.

Was kann da helfen?

Das ist schwierig. Sicher, bei brisanten Partien Polizei vorbeizuschicken, kann nicht schaden. Aber es sind ja oft keine klar zuzuordnenden Konflikte, sondern es zieht sich durch alle Vereine und Ligen. Die Probleme, die da ausagiert werden, entstehen oft aus gesellschaftlichen, sozialen, ethnischen Konflikten, die in den Fußball reingetragen werden, die aber woanders gelöst werden müssten.