„Wenn Berlin nicht langsam mal den Arsch hochkriegt, wird es peinlich“

Das bleibt von der Woche Die SPD liegt in der Wählergunst deutlich vorn, Berlin will Passau Millionen Euro für Flüchtlinge überweisen, die Zahl der Straftaten bei rechten Demos steigt explosionsartig an, und Björk gibt ihr einziges Deutschlandkonzert ohne die sonst üblichen Smartphone-Ablenkungen

Müller lässt Henkel weit hinter sich

Neue Umfrage

Die große Koalition hat abgewirtschaftet, Henkel ist nicht mehr großstadttauglich

Nun ist es ja mit Umfragen von Forsa immer so eine Sache. Wenn sie aber einen Trend formulieren, den auch andere Institute identifiziert haben, kann man das vielleicht so interpretieren, dass die Forsa-Umfrage nicht unbedingt genau ist, der Trend aber stimmt.

Im Trend bei den Wählerinnen und Wählern in Berlin liegen derzeit eindeutig Michael Müller und seine SPD. Bei der jüngsten Umfrage, die Forsa am Mittwoch vorgestellt hat, kommt die SPD auf 29 Prozent und hat damit die CDU von Frank Henkel mit 24 Prozent ordentlich auf Abstand gedrückt. Die Grünen landen demnach mit 17 Prozent auf Platz drei, die Linke bekäme 15 Prozent. Andere Parteien wie die Piraten, die AfD oder die FDP würden den Sprung ins Abgeordnetenhaus nicht schaffen.

Zum Trend gehört auch, dass Frank Henkel, der designierte Spitzenkandidat der CDU, sich im freien Fall befindet. Und das liegt nicht nur an der neuen Stärke einer SPD, die sich nicht mehr mit Klaus Wowereit und dem BER-Desaster konfrontiert sieht. Auch in der Beliebtheit hat Müller Henkel weit hinter sich gelassen. Mit 1,8 Punkten steht der Regierende Bürgermeister mit Abstand oben, während es Henkel mit 0,3 nicht mal mehr unter die ersten zehn schafft.

An der Börse würde man sagen: Das ist eine klare Wertberichtigung: Die CDU ist weit weniger wert als es ihre derzeitige Notierung als Koalitionspartner nahelegt.

Für die SPD ist das ein klarer Auftrag zur Kündigung des aktuellen Bündnisses nach der Wahl zugunsten von Rot-Grün oder auch, wenn es reicht, von Rot-Rot. Die große Koalition hat abgewirtschaftet, weil der CDU-Frontmann nicht mehr großstadttauglich ist. Zur Erinnerung: Bei der CDU-Umfrage zur Ehe für alle hat Henkel mit „eher nicht“ gestimmt. „Eher nicht“ – so fällt inzwischen auch das Urteil der Wählerinnen und Wähler zur CDU aus. Uwe Rada

Das Land zahlt seine Schulden!

Bayern lobt Berlin

In der Senatsverwaltung für Jugend werden keine Rechnungen zerrissen

Vorweg: Es gibt Dinge, die muss man nicht unbedingt in Gänze verstehen. Zum Beispiel das System, wie in der Bundesrepublik jene Städte, die sich um minderjährige unbegleitete Flüchtlinge kümmern, dafür Geld von anderen Städten erhalten. Sicher ist nur: Es soll gerecht zugehen, schließlich unternehmen manche Städte da mehr als andere.

Etwa das bayerische Städtchen Passau, deutschlandweit bekannt als Hort des Konservatismus, fast schon in der Tschechischen Republik gelegen. Und weil Passau so viele minderjährige unbegleitete Flüchtlinge aufnimmt, schreibt es dafür Rechnungen, auch an Berlin. Offenbar ohne Wirkung – was angesichts des Verhältnisses zwischen Bayern und Berlin niemand verwundert hätte: Zu oft haben Politiker aus dem Südosten zuletzt den „Preußen“ die Verschwendung von Steuergeldern vorgeworfen, als dass man sich in der „Bundeshauptstadt“ noch genötigt fühlen müsste, auf Geldforderungen von „dort unten“ einzugehen.

Doch als sich nun am Dienstag der Passauer Landrat Franz Meyer (natürlich CSU) zu Wort meldete und nicht weniger als 1,5 Millionen Euro seit Anfang 2014 aufgelaufene Schulden von der Senatsverwaltung für Jugend und Bildung verlangte, da war alles etwas anders: Ganz fix ließ Senatorin Sandra ­Scheeres (SPD) erklären, dass man die Zahlungsverpflichtung durchaus ernst nehme und „keine Rechnungen zerreiße“. Deswegen habe man „auch sofort zugesagt, ausstehende Beträge selbstverständlich zu begleichen“.

Nur werde das etwas dauern: Schließlich müsse auch Berlin viele junge Flüchtlinge unterbringen; da hätten die Mitarbeiter der Verwaltung eben keine Zeit für Überweisungen. Was nicht nur Bayern betreffe: „Wir sind momentan mit der Bearbeitung von Rechnungen anderer Bundesländer im Verzug.“

Für Franz Meyer klang das dennoch wie ein fulminantes Versprechen: „Berlin will Schulden zahlen“, verkündete er postwendend per Pressemitteilung. Und wenn so was aus Bayern kommt, könnte das der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein … Bert Schulz

Die Stadt hat echt ein Problem

Mehr rechte Straftaten

NPD-Kader, Neonazis und Hooligans feiern sich hier Woche für Woche selbst

Was ist eigentlich los in dieser Stadt? An der Bärgida-Demonstration, die seit acht (!) Monaten jeden (!) Montag in Mitte marschiert, nahmen in dieser Woche rund 160 Menschen teil – seit es den Flüchtlingsfeinden immer öfter gelingt, mitten durch den Moabiter Kiez zu ziehen, erfreut sich der zwischenzeitlich geschrumpfte Aufmarsch wieder regen Zulaufs. Bekannte NPD-Kader, sportlich auftretende Neonazis, besoffene Hooligans und islamfeindliche ältere Herren feiern sich hier Woche für Woche selbst.

Derweil steigt die Zahl der im Rahmen rechtsextremer Demonstrationen begangenen Straftaten explosionsartig an, wie diese Woche bekannt wurde: 46 solcher Delikte hat die Polizei für das erste Halbjahr 2015 registriert, das sind mehr, als im Jahr 2013 insgesamt begangen wurden – von der Dunkelziffer nicht zu reden. Und auch die Welle rechtsextremer Gewalt gegen Flüchtlingsunterkünfte macht vor der Stadt nicht halt: Von 5 Fällen im Jahr 2013 stieg die Zahl auf 41 im Jahr 2014; im Moment gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Bilanz 2015 besser ausfällt.

Und was macht Berlin? Ein einziges Mal, vor dem allerersten Aufmarsch, haben die Fraktionen im Abgeordnetenhaus geschlossen zum Protest gegen Bärgida aufgerufen, ein einziges Mal haben sie sich anlässlich der permanenten Nein-zum-Heim-Demonstrationen gemeinsam zu Wort gemeldet – damit war das Problem aus ihrer Sicht offenbar erledigt. Die Polizei behauptet allen Ernstes, die gestiegene Zahl rechtsex­tremer Straftaten belege in erster Linie die Konsequenz der ­Beamten.

Allerdings: Das Problem liegt nicht nur bei Politik und Behörden. Ausgerechnet hier versagt gerade auch die Zivilgesellschaft. Ja, es gibt Menschen, die sich gegen rechts engagieren, zum Teil unermüdlich – aber es sind zu wenige, und sie haben zu wenig Unterstützung, von der Politik, aber auch von den restlichen BerlinerInnen. Wo ist der massenhafte Protest gegen die Aufmärsche, wo sind die großen Willkommenskundgebungen? In dieser Stadt leben viele Menschen, die Berlin für seine Weltoffenheit schätzen, vielleicht sogar deswegen hierhergekommen sind. Wenn nicht ­wenigstens ein Teil von ihnen langsam mal den Arsch hochkriegt, wird es bald nur noch peinlich sein, sich mit diesen Werten zu schmücken.

Malene Gürgen

Anleitung zum Konzert- besuch

Björk in der Zitadelle

Von Björk bleibt der Gedanke, einfach mal abzuschalten. Das geht nämlich

Viele Menschen finden die isländische Sängerin Björk schlicht nervig; sie nennen ihren Gesang sirenenhaft und meinen das nicht positiv. Ihre Fans sprechen auch von Sirene – aber im positiven Sinne – und erliegen den Lockungen Björks gerne: Das Konzert am Sonntag in der zur Freiluftbühne umgebauten Zitadelle in Spandau war mit mehr als 10.000 Besuchern seit Wochen ausverkauft. Es war ihr einziger Auftritt in diesem Jahr in Deutschland.

Dabei stellte die 49-Jährige, die seit fast 30 Jahren den Popbetrieb mit kühnen Platten aufmischt, ihr Publikum auf eine harte Probe, schon vor Beginn: „Auf Wunsch der Künstlerin bitten wir Sie, das Fotografieren und Filmen zu unterlassen“, stand da auf der Leinwand hinter der Bühne zu lesen. „Björk möchte Sie ermuntern, Teil der Performance, statt mit den Gedanken bei Aufzeichnungen zu sein.“

Die oberlehrerhafte Mahnung ist an sich schon reichlich überholt: Längst haben die fast permanent leuchtenden Handydisplays der filmenden Fans die Feuerzeugästhetik aus den Konzertarenen verdrängt; die Nachlese bei YouTube gehört zum festen Bestandteil jedes Konzerterlebnisses. Bei Björk, für deren vorletztes Album es sogar eine als „innovative multimediale Entdeckungsreise“ angepriesene App gibt, wirkte die Bitte völlig absurd – und schlicht nervig. Ein schlechtes Omen für das Konzert?

Im Gegenteil. Der Auftritt der Sängerin – im roten Kostüm mit Aufstellkragen und Maske im Gesicht – mit einem 15-köpfigen Streichorchester, einem Percussionisten und einem DJ, war überwältigend; der Sound klar, die Mischung aus aktuellen Liedern und dem Rückblick bis in die 90er Jahre perfekt. Auch die Videos im Hintergrund mit eierlegenden Schmetterlingen, Schnecken und Bienen passten: Die Sängerin verarbeitet in ihrem aktuellen Album sehr offen das Ende einer 13-jährigen Beziehung und präsentiert ihre Gefühlswelt reichlich direkt.

Auch im Konzert. Vielleicht lag es an dieser tiefen Emotionalität, dass die meisten Zuschauer tatsächlich ihre Smartphones in der Tasche ließen. Oder war es doch die Ehrfurcht vor der so selten live zu erlebenden Sängerin? Erst als Björk Feuerwerk auf der Bühne zünden ließ und rote Rauchschwaden durch die Zitadelle zogen, konnten viele Besucher den Filmreiz nicht mehr unterdrücken.

So gibt es die Highlights natürlich trotzdem bei YouTube. Und neben der Erinnerung an ein außergewöhnliches Konzert bleibt der Gedanke, einfach mal abzuschalten. Das geht nämlich. Bert Schulz