Das Gegenteil von Oberfläche

LÜCKEN Nachdenken über die Stadt: Der Fotograf Harf Zimmermann und die Autorin Therese Teutsch lesen Brandwände und verfolgen an ihnen Umbrüche der Geschichte

Harf Zimmermann, aus der Serie „Brand Mauer“ Foto: Aus dem besprochenen Bildband

von Lennart Laberenz

Wo die Brandwand sichtbar ist, ist sie ein Verweis. Sie blickt auf eine Lücke. Eigentlich ist eine Brandwand ohne ästhetischen Anspruch, eine baustatische Versicherung gegen das Übergreifen der Flammen, eine unsichtbare Grenze. Einmal freigelegt, zeigt sie an, dass da etwas fehlt.

Lücken, die plötzliche Leerfläche und Unterbrechung der Reihe, „sind die Wunden der Stadt und ihre Chancen, ihre Schandflecke und ihre utopischen Orte“, schreibt Therese Teutsch in ihrem beschwingten Essay „Unverfugt. Lücken im Berliner Stadtraum“ (Lukas Verlag). Teutsch blickt zurück mit der Lücke, findet Prozesse der Entleerung, den Zivilisa­tions­bruch des NS, Kriegszerstörung. Sie findet die kulturelle Impotenz des Kleinbürgersozialismus, die der verhassten Ornamentik der Bourgeoisie Arbeiterschließfächer an den Stadträndern entgegensetzte.

Zurück schaut auch der Fotograf Harf Zimmermann. Mehr als fünfzehn Jahre ist er durch Berlin, Leipzig, Warschau oder Dresden gelaufen, eine schwere Plattenkamera im Gepäck und nicht selten eine Hebebühne. Herausgekommen ist ein kühler, wunderbarer Bildband, der jetzt im Steidl Verlag erscheint: Eine Spurensuche.

Zimmermann zeigt, dass die Brandwand nicht unverputzt und roh dastehen muss, Graffiti kein Zwang ist: Sie kann gestrichen werden, Blickachsen ermöglichen, Licht reflektieren. Nicht selten ist sie vom Gegenteil ihres ursprünglichen Sinns durchbrochen: von unsortierten Fenstern, die Räume zur Sonne aufschlossen, welche zuvor auf dieser Seite blind waren.

Letzte tanzende Dame

Später mussten die Fenster wohl wieder zugemauert werden. Ein rätselhaftes Altarkreuz hängt da in unbestimmter Höhe und im warmem Abendlicht. Wie ein Schattenriss ist von einem anderen Gebäude nur noch ein Abdruck geblieben, es gibt Reste eines Ballsaals, ein Putzloch wirkt noch wie eine letzte tanzende Dame.

Zimmermanns Aufnahmen schließen oft mit der Wand ab, heben aderngleiche Putzrisse hervor, lassen die rätselhaften Muster auf Blechverschalungen hervortreten, finden Öffnungen, die man im Osten kannte: Heizungsschächte. Brandwände lassen auch Zeichen der Eigenregie sehe aus einem Staat, der einen absoluten Plan entwerfen wollte.

Harf Zimmermann betreibt eine Art fotografische Archäologie, aus den Lücken schaut die Vergangenheit als versiegelte Zeit zurück. Auch in Westdeutschland hielten sich Lücken: Hartmut Häußermann und Walter Siebel hatten Ende der 1980er Jahre den Bevölkerungsverlust in deutschen Großstädten als kontinuierlicher Prozess vermessen – die Einwohnerdichte war 1985 im Durchschnitt um 23,4 Prozent niedriger als zwanzig Jahre zuvor. Man zog „ins Grüne“.

Die Planung der Moderne dachte an die aufgelockerte Stadt, ließ Lücken und Grünflächen, trennte die Nutzung von Bereichen – und beschränkte die Verkehrsplanung lange aufs Automobil. Manche Brachen, die der Krieg gerissen hatte, füllten sich aus materieller Not, hie und da führten Gärtnerträume der Arbeiter zu einer Kleingartenanlage. Streng konditioniert mit Regelbuch und Satzung. Heute geht es in mancher Lücke um die „konkrete Utopie“, ein Gemeinschaftsgarten.

Zimmermann bleibt in seinen Bildern abstrakter, ihn interessieren eher die Muster der blätternden Farbe als vergilbter Aufbruchswillen einer Werbebotschaft. Seine Bildsprache hält sich sachlich an die Poesie des Vergangenen, ohne dabei in Nostalgie umzukippen. Und schon die nächste Zwischennutzung, eine Parkgarage, ist wieder abgerissen und hinterlässt ihre Zeichen.

Seit 1989 verschwindet die rohe Ästhetik kahler Mauern unter Graffitischichten, Neubauprojekte drängen in alte Bombenlöcher. „The cities ripped insides“, die Iggy Pop besang, werden verarztet, die Löcher gestopft. Damit ist die Lücke ein Phänomen des Übergangs. Kriegsteilnehmer erinnern sich anders als Kinder, denen die Brache zur Spielwiese wurde.

Zeug zum Fetisch

„Für Ökonomen ist die Lücke Zeichen eines Schwundes, Abwesenheit ein Mangel, dessen Potenzial allein in seiner profitablen Beseitigung liegt,“ schreibt Therese Teutsch. „Ästheten dagegen erblicken in nothingness schon Potenz. Die Adepten des Kulturbetriebes wiederum, ästhetisch geschult und ökonomisch gewieft zugleich, verstehen sich darauf, Verfall mit Ästhetik zu versetzen und gewinnbringend umzudeuten. So hat auch die Lücke im postindustriellen, digitalen Zeitalter das Zeug, zum Fetisch gemacht zu werden wie die romantischen Ruinen.“

Harf Zimmermann zeigt, dass Lücken von Geschichten der Vergangenheit gerahmt werden. Die Brandwände sind das Gegenteil der glatten Oberfläche.

Harf Zimmermann: „Brand Wand“. Steidl Verlag, Göttingen 2015, 108 Seiten, 78 Euro