Das Ende der individuellen Moral

STALINGRAD-SCHAU Die Reihe „Die Welt in Waffen: Stalingrad“ widmet sich der filmischen Geschichtsschreibung im amerikanischen, sowjetischen und westdeutschen Kino

Die plötzliche Angst, sagt Lopatin, spürt er im Bauch, die ständige Angst aber sitzt ihm im Nacken

VON BERT REBHANDL

Von Berlin nach Stalingrad sind es gut 2.500 Kilometer, und von der Stadt an der unteren Wolga, die heute Wolgograd heißt, ist es noch einmal ungefähr so weit bis nach Taschkent im heutigen Usbekistan. Als der Zweite Weltkrieg in eine entscheidende Phase ging, waren Menschen beteiligt, die enorme Distanzen zurückgelegt hatten, nur um im „Kessel“ und in den Mauerresten der sowjetischen Metropole zu erfrieren, von Artilleriefeuer zerfetzt oder von einem Heckenschützen erwischt zu werden. Wer überlebte, trat entweder einen langen Marsch nach Osten in die Gefangenschaft an oder aber den nicht minder langen Weg nach Berlin, den es brauchte, um „die Faschisten“ endgültig niederzukämpfen.

Mit Stalingrad verbindet sich das Motiv der großen Wende im Krieg, das eine Filmschau im Zeughauskino im Deutschen Historischen Museum nun auf seine Stichhaltigkeit überprüft. Die Auswahl an Stalingrad-Filmen, die von der Kuratorengruppe The Canine Condition getroffen wurde, gehört in den größeren Zusammenhang eines Projekts mit dem Titel „Die Welt in Waffen“, in dem die eigentliche Rolle des Kinos und der filmischen Medien im Zusammenhang der Kriegshandlungen zur Geltung kommt. Denn das, was schon das zeitgenössische Publikum und nun eben auch noch das heutige zu sehen bekommt, ist ja immer schon nachträglich zum Ereignis und beginnt dieses auf vielfache Weise zu verarbeiten.

Das gilt schon für die Wochenschauen und Propagandafilme, die hier gezeigt werden und aus denen hervorgeht, welche Interessen die heterogenen Koalitionen dieses Kriegs jeweils hatten (die Antwort auf die Frage „Why We Fight“ fiel charakteristisch unterschiedlich aus, ob es sich nun um sowjetische oder amerikanische Sichtweisen handelte), oder welches das Kriegsziel der Deutschen war (polemisch gefasst: untermenschenleerer Siedlungsraum).

Von den relativ zeitnahen Dokumenten gibt es in der Stalingrad-Schau im Zeughauskino aber einen großen Bogen bis zu bedeutenden Nachkriegsbearbeitungen des Themas. Von deutscher Seite ragt dabei Falk Harnacks „Unruhige Nacht“ heraus, in dem es um einen deutschen Deserteur geht, der vor der Hinrichtung steht. Er hat die Truppen aus Liebe verlassen, nun soll ihm ein Pfarrer geistlichen Beistand leisten. Der Film beginnt mit einem Telegramm, das einen Obersten dringend anfordert – die deutschen Kräfte werden nach Stalingrad beordert, die Situation spitzt sich zu, und vor diesem Hintergrund wird hier noch einmal das Drama der individuellen Moral verhandelt, das der „totale Krieg“ ja auch beenden sollte.

Den eigentlichen Höhepunkt dieser kleinen Schau bildet der Film, der zu „Unruhige Nacht“ als eine sowjetische Entsprechung gesehen werden könnte: „Zwanzig Tage ohne Krieg“ von Aleksej German. Der Offizier Lopatin, ein Brillenträger mittleren Alters, bekommt hier Heimaturlaub und macht sich auf den langen Weg nach Taschkent an der zentralasiatischen Peripherie der Sowjetunion. Er wird dort ein paar Tage verbringen, in den chaotischen sozialen Verhältnissen, die der Krieg geschaffen hat. Das Taschkent, das Lopatin durchquert, erscheint hier beinahe wie postapokalyptische Landschaft, halb Mittelalter, halb Ruinenstätte. Überall wird der Soldat auf die Differenz angesprochen, die seine Erfahrungen bedeuten. Die Leute wollen wissen, was das heißt: einen Menschen zu töten, dem eigenen Tod ins Auge sehen.

Die plötzliche Angst, sagt Lopatin, spürt er im Bauch, die ständige Angst aber sitzt ihm im Nacken. So hat jede Empfindung ihren körperlichen Ort. „Zwanzig Tage ohne Krieg“ zeigt gegen Ende eine Kamerafahrt, als sich der Zug nach Westen wieder in Bewegung setzt, an einem langen Güterzug vorbei, auf den die Geschütze geladen sind, die in Taschkent produziert werden. Sie werden vielen Deutschen den Tod bringen, sie sitzen aber auch den „vaterländischen Kriegern“ im Nacken. Denn im Feld sind sie alle gleichermaßen verwundbar, und die Deutschen haben auch Geschütze.

■ Die Welt in Waffen: Stalingrad: bis 6. 2. im Zeughauskino, Programm: www.dhm.de/kino