LeserInnenbriefe
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Kandidaten direkt wählen

betr.: „Unsere Demokratie ist sozial gespalten“, taz vom 21. 7. 15

Frau Fahimi ist „überzeugt, dass wir mehr Elemente direkter Demokratie brauchen“. Dann werden von ihr jedoch nur simulierte „Juniorwahlen“ an Schulen als Beispiel genannt. Wenn man die Wahlbeteiligung in Stadtteilen mit hoher Arbeitslosigkeit erhöhen möchte, wird man mehr tun müssen. „Leider entziehen gerade ausgerechnet diejenigen, die ein Interesse am Staat haben müssten, der Demokratie ihr Vertrauen“. Kumulieren und Panaschieren hat offenbar nicht geholfen dieses Vertrauen aufzubauen, da die Betroffenen erst gar nicht zur Wahl erscheinen. Wie wäre es mit einem Wahlrecht, welches es den Wählern ermöglicht, „ihren“ Abgeordneten zu haben, mit dem man Probleme besprechen kann? Das würde voraussetzen, dass man von einem reinen Listenwahlrecht abgeht und den Wählern mindestens zusätzlich ermöglicht, Kandidaten direkt zu wählen. JOHANNES FEEST, Bremen

Inhalte vermieden

betr.: „Unsere Demokratie ist sozial gespalten“, taz vom 21. 7. 15

„Wahlen drohen zur Exklusivveranstaltung für die Mittel- und Oberschicht zu werden“, stellt SPD-Generalsekretärin Fahimi besorgt fest. Hört, hört. Und welche Konsequenzen will Fahimi daraus ziehen? Mehr direkte Demokratie (das fand die SPD ja schon in Griechenland super), Juniorwahlen, längere Wahlzeiträume, mobile Wahlkabinen. Für ein besseres Abschneiden der SPD außerdem mehr Präsenz vor Ort („mit der Gulaschkanone vor den Betrieb“) und andere Formalia.

Es ist ziemlich bezeichnend, dass Fahimi tunlichst jegliche Inhalte vermeidet und auch keinen Gedanken daran verschwendet, warum viele Menschen „die Hoffnung verloren (haben), dass Politik ihr Leben spürbar verbessern könnte.“ Bis sie dann von der taz mit der Nase auf die Rolle der SPD gestoßen wird, um dann die Agenda-Politik mäßig überzeugend zu verteidigen.

Nein, Frau Fahimi, die SPD hat seit Schröder ihre (scheinbar infantilen) Wähler nicht „überproportional gefordert, viele auch frustriert oder verschreckt“, sie hat einfach das genaue Gegenteil sozialdemokratischer Politik betrieben, wie es sich Union und Liberale niemals hätten erträumen können – und solange Ihre Partei das weder einsieht noch inhaltliche Konsequenzen daraus zieht, werden Sie die Wähler auch nicht mit der Gulaschkanone zurück an die Urnen schießen, um da ihr Kreuz für die SPD zu machen. MICHAEL SCHÖFFSKI, Köln

Demokratie wird Lobbykratie

betr.: „Unsere Demokratie ist sozial gespalten“, taz vom 21. 7. 15

Meiner Beobachtung nach gehen die „Abgehängten“ und viele andere auch deshalb nicht zur Wahl, weil ihre Interessen nicht vertreten sind. Da werden Wahlversprechen gemacht und Hoffnungen geschürt, die, wenn die Partei an der Macht ist, ganz anderen Interessen geopfert werden. Die Demokratie verkommt zur Lobbykratie, in der Interessenverbände die Richtung vorgeben, ob sie dem Volk nützen oder nicht.

CHRISTOPH KROLZIG, Öhningen

An der Problematik vorbei

betr.: „Unsere Demokratie ist sozial gespalten“, taz vom 21. 7. 15

Wenn Yasmin Fahimi davor warnt, dass die deutsche Demokratie sozial gespalten ist, ist das eine klare Aussage, die genau und zutreffend beschreibt, was in unserem Land vor sich geht. Wenn sie weiter feststellt, das die Armen in unserem Land nicht mehr zur Wahl gehen, ist auch diese Aussage absolut zutreffend. Nur die Lehren, die sie daraus zieht, sind eher verwaschen und nicht mehr so ehrlich. Und ihr Vorschlag, den Wahlvorgang zu verlängern oder in den Supermarkt zu bringen oder mit Wahlsimulationen in Schulen die Wahlmüdigkeit zu brechen, geht an der Problematik vollkommen vorbei.

Seit wann verliert die SPD den Rückhalt in der Bevölkerung? Wer deren Politik nur ein wenig verfolgt erkennt, dass der neokapitalistische Kurs, angefangen mit Gerhard Schröder bis heute zu Sigmar Gabriel, diesen Trend setzt. Da hat die SPD ohne Not das „Godesberger Programm“ verlassen und sich dem Großkapital angedient.

Und wenn Frau Fahimi immer noch der Ansicht ist, dass die Agenda 2010 der richtige Schritt gewesen sei, dann scheint auch sie lernresistent zu sein. Es sind ja nicht nur Hartz IV und die Rente mit 67 die Problemfelder in dieser Agenda.

Da hat die Ausweitung der prekären Minijobs, der Werkarbeitsverträge, der Leiharbeitsverträge, die Möglichkeit der Scheinselbständigkeit eine viel schlimmere Auswirkung auf die Sozialstandards der Bevölkerung.

Und heute? Da gibt es zwar den Mindestlohn, aber mit so vielen Einschränkungen gerade bei den sozial Schwachen, dass einem auch hier die Augen weh tun, wenn man genau hinschaut. Was tut die SPD dagegen? Wo hat sie ihr soziales Gewissen?

Solange die SPD-Linke dieses Spiel mitspielt, bei Ceta und TTIP, bei Tisa und der Vorratsdatenspeicherung, schwanzwedelnd hinter Gabriel herläuft und letztlich so abstimmt, wie er das will, so lange wird die SPD mit dazu beitragen, dass die Armen in Deutschland aus Enttäuschung die Wahlkabine Wahlkabine sein lassen. ALBERT WAGNER, Bochum