„Was immer passiert ist – es muss schnell aufhören“

EINGREIFEN Der Verein Strohhalm e. V. berät Einrichtungen, Pädagogen und Eltern bei sexuellen Übergriffen unter Kindern. Die kommen öfter vor, als man denkt – seien aber meist schnell aus der Welt zu schaffen, sagt die Leiterin Maria van Os

Nach sexuellen Übergriffen ist es wichtig, dem Kind zu vermitteln, dass das nicht in Ordnung ist Foto: Anja Bäcker/Plainpicture

taz: Frau van Os, Sie beraten Einrichtungen, in denen Kinder untereinander sexuelle Grenzverletzungen begangen haben. Wie oft kommt so etwas vor?

Maria van Os: Wir werden mehrmals die Woche gerufen, weil es Vorfälle gab. Darüber hinaus bieten wir in Kitas oder Grundschulen Workshops zur Prävention an. Bei den Vorbereitungsgesprächen zeigt sich: Es gab bereits Vorfälle. Man kann sagen, dass wir noch keine Einrichtung gesehen haben, in der es nicht schon einmal zu Übergriffen kam.

So häufig ist sexuelle Gewalt zwischen Kindern?

Ja – weil wir bereits Verbales als Übergriffe werten. „Blöder Wichser“, „Fotze“: bei Beschimpfungen, die andere auf sexualisierte Weise klein machen, fängt Übergriffigkeit an. Sie geht bis zur gewaltvollen Penetration auf dem Schulklo. In den Kitas gibt es Doktorspiele, die im Überschwang zu weit gehen. Bis hin zu strategischer Erpressung und Einschüchterung. Auch dazu sind Fünfjährige schon fähig. Wir helfen den Einrichtungen, die sich an uns wenden, diese Vorfälle einzuordnen.

Wie tun Sie das?

Wir lassen uns vom Erzieher oder der Lehrerin die Situation schildern und suchen dann gemeinsam nach Lösungswegen.

Die Kinder befragen Sie nicht?

Nein. Von Sechs-Augen-Gesprächen raten wir ab. Eine Befragung birgt die Gefahr, dass das Gewalt ausübende Kind sich herausreden kann. Umgekehrt kann es dazu führen, dass sich das betroffene Kind erneut als ohnmächtig empfindet. Wir empfehlen: das übergriffige Kind direkt zu konfrontieren. Und ihm ganz klar vermitteln: Dein Verhalten hat einem anderen wehgetan. Und so etwas dulden wir hier nicht.

Streiten die Täter dann nicht alles ab?

Direktes Leugnen kommt erstaunlich selten vor. Die Grundvoraussetzung dafür ist aber, dass der Pädagoge eine entschiedene Haltung zeigt. Situative Parteilichkeit nennen wir das: dem Opfer glauben, Einsicht beim Täter erzeugen. Wichtig ist das Versprechen, es nicht wieder zu tun. Sehr oft funktioniert das, und die betroffenen Kinder können weiter zusammen die Einrichtung besuchen.

Und wenn nicht?

Dann müssen Sanktionen greifen, je nach Schwere der Tat: Ausschluss aus dem Unterricht oder von der Klassenfahrt, das Kind muss sich vor jedem Klogang abmelden oder immer in Nähe der Erzieherin sein. Die Lösungen sind individuell. Wichtig ist: Was immer passiert ist – es muss schnell aufhören.

Wann sollten die Eltern eingeschaltet werden?

Möglichst sofort. Allerdings nur die betroffenen Eltern, damit keine Hysterie entsteht. Die Einberufung eines Gesamt­elternabends ist nicht hilfreich.

Welche Kinder werden Opfer, welche Täter, gibt es darüber Erkenntnisse?

Aus unserer Erfahrung kommt sexuelle Gewalt in allen Altersstufen und Milieus gleich häufig vor. Jungen und Mädchen sind gleichermaßen betroffen. Die Täter sind zu drei Vierteln Jungs.

Ist mit Kindern, die übergriffig werden, etwas nicht in Ordnung?

Maria van Os

Foto: privat

50, ist Diplomsozialpädagogin und Leiterin des Vereins Strohhalm e. V. für sexuelle Gewaltprävention.

Nur etwa die Hälfte ist auch anderweitig sozial auffällig oder hat selbst Gewalt erfahren. Die andere Hälfte handelt aus Neugier oder lebt Aggressionen an Schwächeren aus.

Warum machen Kinder so etwas überhaupt?

Die Gründe sind vielschichtig. Weil sie nicht gelernt haben, Grenzen einzuhalten. Weil sie selbst Grenzverletzungen durch andere erfahren haben. Weil sie Zugang zu Pornografie haben oder Macht ausüben wollen oder auf ihre Probleme aufmerksam machen wollen. Bei Gruppendynamiken kommt noch der Faktor „Mutprobe“ dazu, da sorgt der Gruppendruck dafür, dass Einzelne Dinge tun oder erdulden, die sie eigentlich nicht wollen. Schwierig wird es auch, wenn Kinder aus sehr autoritären Familien kommen, in denen Sexualität tabuisiert wird. Da ist sensible Elternarbeit gefragt, damit betroffene Kinder nicht zu Hause bestraft werden.

Wie geschult sind Berliner Pädagogen dafür überhaupt?

Viele Kitas lassen sich schulen, unsere Fortbildungen sind immer ausgebucht. In den Grundschulen besteht noch viel Bedarf, auch weil die Übergriffe mit steigendem Alter der Kinder tendenziell schwerer und komplizierter werden. Aber die Sensibilität für das Thema ist da.

Interview Nina Apin