„Kinder finden die brennende Hexe gut“

MÄRCHENERZÄHLER Klaus Rudolf Dörre aus dem schleswig-holsteinischen Quern erzählt keine Andersen-Märchen, weil er die zu trostlos findet. Die Brutalität der Grimm‘schen Märchen schade Kindern dagegen nicht, findet er

Kinder begreifen den Symbolgehalt von Märchen intuitiv

VON PETRA SCHELLEN

„Es geht nicht um den Kopf“, sagt Klaus Rudolf Dörre. „Es geht um die Bilder.“ Wovon er spricht, der Märchenerzähler aus dem schleswig-holsteinischen Quern? Von alten Geschichten. Nicht von den tristen Kunstmärchen eines Hans Christian Andersen. Sondern von Volksmärchen, wie die Gebrüder Grimm oder der Schleswig-Holsteiner Karl Müllenhoff sie im 19. Jahrhundert sammelten. Die gehen immer gut aus; Freund und Feind sind klar definiert.

Dörre lebt seit fast 20 Jahren als Märchenerzähler in Schleswig-Holstein. Seine Frau und er stammen eigentlich aus Nürnberg. Der Tod eines ihrer Kinder bewog sie, von dort wegzuziehen. Vier Kinder leben noch, und über sie ist der Ingenieur zum Erzählen gekommen. „Als meine älteste Tochter zwei war“, sagt Dörre, „wollte sie vorm Einschlafen immer ein Märchen hören. Anfangs haben wir vorgelesen. Davon ist das Kind aber immer wacher geworden, wollte immer mehr Geschichten hören.“ Also wurde auswendig gelernt und im Dunkeln erzählt. „Aber Kinder sind ja gnadenlos: Wenn man die Geschichte ein bisschen anders erzählt als am Vortag, hagelt es Protest.“ Also half nur noch eins: sich zu dem Kind ins Bett zu legen und jeden Abend eine Geschichte zu erfinden. „Da liegt man im Dunkeln und wartet auf den Zwerg, der einem die Geschichte ins Ohr flüstert“, sagt Dörre. Da schlief auch der Vater schon mal ein. „Irgendwann wurde man unsanft geknufft: Wann der Zwerg denn endlich käme. Da hilft alles nichts: Man muss sofort loslegen.“

Dörre ist keiner, der sich allzu sehr in Psychologen-Sprech verfängt, obwohl er Bruno Bettelheims „Kinder brauchen Märchen“-These natürlich kennt. Und er weiß von C. G. Jungs Erkenntnis, dass sich Traum- und Märchenbilder weltweit gleichen. Aber er macht keine Wissenschaft daraus, sondern zieht Konsequenzen: Er erzählt nur Volksmärchen, Eigenes selten, Kunstmärchen gar nicht: zu depressiv. Andersen etwa habe in die „Kleine Meerjungfrau“ seine eigenen Depressionen gewoben.

Volksmärchen dagegen seien „zwar durchaus brutal“ mit ihren brennenden Hexen und verschlungenen Rotkäppchen. Aber die Texte gingen nicht ins Detail: „Man erfährt nicht, wie Rotkäppchen zermalmt wird oder wie die abgehackte Hand blutet.“ Denn es gehe ja nicht ums Hand-Abhacken, sondern um das Symbol: „Jemand ohne Hände ist nicht mehr hand-lungsfähig.“ Kinder begriffen dies intuitiv. „Ich habe nie erlebt, dass sie bei Grimms Märchen Angst gehabt hätten.“

Der intuitive Zugang ist es auch, der es ihm leicht macht, Märchen für Psychiatrie-Patienten zu erzählen. „Ich muss da nicht extra gut verständliche Geschichten aussuchen. Denn es geht nicht ums Nachdenken, sondern um die Bilder.“ Auch in Seniorenheimen erzählt Dörre Märchen – oft Grimm‘sche, weil die so bekannt sind. „Wenn mir da ein Dementer, der eine halbe Stunde vor sich hingeschaut hat, plötzlich in die Augen sieht, weiß ich: Da ist gerade was passiert.“ Die psychiatrische Klinik in Hamburg-Ochsenzoll habe herausgefunden, dass Patienten, denen wöchentlich Märchen vorgelesen wurden, deutlich weniger Beruhigungsmittel gebraucht hätten. Worin letztlich die Heilwirkung der Märchen besteht? „Darin“, sagt Dörre, „dass der Schwache es letztlich immer schafft, sein Leben in positive Bahnen zu lenken.“

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