Unterricht und Unterkunft flau

Flüchtlinge Eissporthalle „Paradice“ ist als Notunterkunft für jugendliche Flüchtlinge wiedereröffnet. Zwei Dritteln fehlt noch immer ein Schulplatz

Kein „Paradice“: Wohnen in der Eissporthalle Foto: privat

von Jens Fischer

Überfordert sind die Jugendämter der Kommunen mit jungen Flüchtlingen, die sich allein nach Deutschland durchgeschlagen haben. „Land unter“, charakterisiert Bernd Schneider, Pressesprecher der Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne), die Situation in Bremen. Dort lebten derzeit 800 unbegleitete jugendliche Flüchtlinge, 500 seien allein dieses Jahr gekommen, 1500 würden noch bis Weihnachten erwartet. „Bis 2010 kamen jährlich nur 50“, verdeutlicht Schneider die Dimension. Und vergleicht die Weser- mit der Alsterhansestadt: „Bei uns sind 0,12 Prozent der Bevölkerung jugendliche Flüchtlinge, in Hamburg sind es 0,09. Klingt nicht viel, überfordert uns aber teilweise.“

Nach der Schließung der Habenhauser Zentralen Erstaufnahmestelle (Zast) mussten 200 Jugendliche umziehen. 70 wohnen seit Mitte letzter Woche in der Eislaufhalle „Paradice“. „Es hat Selbstmordversuche gegeben, das sind keine tragischen Einzelfälle, sondern Anzeichen für ein systematisches Problem“, meint Sofia Leonidakis, flüchtlingspolitische Sprecherin der Linken. Hilfsorganisationen baten zum Pressegespräch.

Da die Jugendlichen als Minderjährige unter das Kinderschutzgesetz fallen, muss das Jugendamt für eine „kindeswohlgerechte Unterkunft“ sorgen. So heißt es offiziell. Hauptvorwurf der Flüchtlingsinitiative Bremen: „Angesichts mangelnder finanzieller Kapazitäten und personeller Engpässe wird seit Ende 2014 vermehrt Jugendlichen Volljährigkeit bescheinigt, obwohl Urkunden vorgelegt werden, die das Gegenteil nahelegen“, erklärt Beraterin Anna Schroeder. Anschließend würde sofort die Jugendhilfe entzogen und Umverteilung in andere Bundesländer vorbereitet. „Oder man entlässt die Jugendlichen in die Obdachlosigkeit“, behauptet Leonidakis.

Für die Betroffenen sei die Alterfestellung existenziell: „Bin ich 17.9 Jahre alt, habe ich als Minderjähriger eine Bleiberechtsperspektive, bin ich 18,1 Jahre alt, droht Abschiebegefahr“, so Schroeder. Dass die Zahl der diesbezüglich Hilfesuchenden sowie der Stapel der Widerspruchsanträge und Altersfeststellungsverfahren exponentiell gestiegen seien, begründet Bernd Schneider mit der exponentiell gestiegenen Zahl von Flüchtlingen. „Es ist kein Willkürakt, Flüchtlinge als über 18-Jährige einzuschätzen. Ihren Angaben wird grundsätzlich geglaubt, wenn sie halbwegs widerspruchsfrei sind. Es gibt keine wissenschaftlich haltbare Methode, das Alter eines Menschen zu bestimmen. Deswegen überprüfen wir nur bei gravierenden Zweifeln.“ Schroeder erklärt: Häufig würden Jugendliche durch ihre Flüchtlingserfahrungen älter wirken als sie seien.

Ihr Mündel habe genau das erlebt, behauptet Susanne Spiller. Die 45-jährige IT-Fachfrau der Gesundheit Nord ist seit drei Wochen eine der 45 Mentorinnen von Fluchtpunkt Bremen. Und blickte ins „Paradice“-Leben des 17-jährigen P. aus Gambia. Sie war entsetzt. Die Jugendliche würden in der Eishockeytrainingshalle in 20 Mehrbettkabinen leben, abgegrenzt nur durch mannshohe Sperrholzplatten.

Kein Internetzugang, keine Privatsphäre. Es sei immer laut, immer hell. Und nur ein Drittel der dort untergebrachten Jugendlichen hätten einen Schulplatz, ergänzt Sofia Leonidakis. Schneider kennt das Problem: „Allein die 120 im Juni nach Bremen gekommenen Jugendlichen bedeuten die Neueinrichtung von vier, fünf neuen Klassen, das ist nicht immer gleich zu leisten.