Familien im Blick

Soziales Die Jugendämter prüfen immer häufiger, ob das Wohl eines Kindes gefährdet ist. Das liegt an einer erhöhten Sensibilität für das Thema, vermuten Expertinnen

Kein Licht am Ende des Tunnels: Die Jugendämter müssen sich um immer mehr Familien kümmern Foto: imago

von Antje Lang-Lendorff

Die Jugendämter leiten immer häufiger Verfahren wegen einer vermuteten Kindeswohlgefährdung ein. Das geht aus Zahlen hervor, die das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg am Dienstag veröffentlichte. Demnach hatten die SozialarbeiterInnen 2014 bei 11.772 Minderjährigen Hinweise auf eine Gefährdung und prüften daraufhin ihre Familien und ihr Umfeld. Bei knapp der Hälfte gab es später Entwarnung: Es wurde keine Gefährdung ermittelt, bei vielen Familien bestand allerdings ein Hilfebedarf.

Im Vorjahr hatten die Jugendämter noch bei 9.959 Jungen und Mädchen eine Gefährdung geprüft – das ist eine Steigerung um fast 20 Prozent. 2012 leiteten die JugendamtsmitarbeiterInnen noch bei 8.791 Kindern und Jugendlichen ein solches Verfahren ein.

Bei jedem fünften betroffenen Minderjährigen stellten die SozialarbeiterInnen im vergangenen Jahr eine akute Gefährdung fest: Hier war eine „erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes oder Jugendlichen bereits eingetreten oder mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten“, heißt es in der Pressemitteilung. Die Jugendämter nahmen insgesamt 735 Betroffene in Obhut – sie holten sie aus ihren Familien, weil das aus Sicht der Ämter für den Schutz der Jungen und Mädchen nötig war.

Gefährdete Minderjährige können in Pflegefamilien, Heimen oder betreuten WGs untergebracht werden. Viele bleiben aber auch in ihrer Familie: Für 1.808 Kinder und Jugendliche wurden 2014 ambulante oder teilstationäre Hilfen zur Erziehung neu eingerichtet, so das Statistikamt.

Die steigenden Zahlen passen ins Bild: Seit Jahren müssen sich die Jugendämter um immer mehr Familien kümmern. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass heute tatsächlich mehr Kinder leiden. „Es gibt eine erhöhte Sensibilität in der Wahrnehmung“, sagte am Dienstag Maud Zitelmann, Pädagogik-Professorin mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe in Frankfurt am Main. Seit Ende der neunziger Jahre können JugendamtsmitarbeiterInnen strafrechtlich belangt werden, wenn sie versäumten zu helfen, so Zitelmann. „Es geht nicht immer um Kinder- sondern auch um Eigenschutz.“

Im Jahr 2014 hatten die Berliner Jugendämter bei 11.772 Kindern und Jugendlichen den Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung.

In 63 Prozentder Fälle stellten sie eine Vernachlässigung fest.

Bei 20 Prozentwurden körperliche Misshandlungen ermittelt, bei 31 Prozent psychische Misshandlungen.

In 3,5 Prozentder Fälle mussten Verfahren wegen sexueller Gewalt eingeleitet werden.

In Brandenburgüberprüften die Jugendämter Familien von rund 6.260 Minderjährigen. Das seien knapp 1.420 Verfahren oder 29 Prozent mehr als noch 2013, so das Amt für Statistik.

Hinzu komme, dass die MitarbeiterInnen der Jugendämter heute oft besser ausgebildet seien als früher, etwa durch Fortbildungen. „Sie wissen mehr über Anzeichen etwa von Kindesmisshandlung und erkennen sie schneller“ sagte die Professorin.

Regina Rätz, Professorin mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin, schätzt die Situation ähnlich ein. Kinder stünden heute viel mehr im Fokus der Medien und der Gesellschaft. Die MitarbeiterInnen der Jugendämter leiteten im Zweifelsfall eher ein Verfahren ein. „Auf jeden Fall ist eine erhöhte Sensibilisierung der JugendamtsmitarbeiterInnen ein Grund für den Anstieg“, so Rätz.

Die Senatsverwaltung für Jugend hielt sich am Dienstag mit einer Interpretation der Zahlen zurück. „Es sind verschiedene Gründe denkbar. Dazu zählt auch die Möglichkeit, dass ein Verdacht schneller und besser gemeldet wird“, so Sprecher Thorsten Metter. Der Senat werde den Kinderschutz in Berlin weiter verbessern, etwa durch die gerade beschlossene Eröffnung von vier Kinderschutzambulanzen. Metter sagte: „Wir wollen dafür sorgen, dass möglichst keine Fälle von Kindesmisshandlungen unentdeckt bleiben.“