Geschichten von der Flucht

PORTRÄT In Berlin hat die portugiesische Künstlerin Filipa César zu ihren Themen gefunden: Kolonialismus und Befreiungskampf. In Film- und Videoarbeiten ist sie den Schatten der Vergangenheit auf der Spur

Die Künstlerin Filipa César vor ihrer Arbeit „Cacheu“ Foto: Filipa César

von Michael Freerix

Vor dem Wohnhaus von Filipa César in der Potsdamer Straße wird gerade ein Baugerüst aufgebaut. Der Hauseigentümer will die riesigen Dachstühle zu Eigentumswohnungen umbauen lassen. César fragt sich, wie sich das auf ihre Wohnsituation auswirken wird? Zusammen mit ihrem Freund und der gemeinsamen Tochter ist sie sechs Jahre zuvor eingezogen, weil ihre Wohnung mit 6 Euro pro Quadratmeter bezahlbar war und ist. Sie nutzt ihre Wohnräume auch als Atelier und hat gelegentlich Mitbewohner. Die Potsdamer Straße ist ihr „geliebtes Rotlichtmilieu,“ wie sie zärtlich sagt. Doch ist die gebürtige Portugiesin einen langen Weg gegangen, bevor sie hier ein Zuhause gefunden hat.

Geboren wurde César 1975 in Porto. Ihre Eltern waren linksintellektuelle Künstler, die in Opposition zur Salazar-Diktatur standen. „Die Revolution,“ so erinnert sie sich, „das war für mich Tanzen und Feiern.“ Anfang der 90er Jahre begann Cesar mit einem Kunststudium in Porto, bei dem sie sich auf Fotografie und Video konzentrierte.

Künstlerisch fühlte sie sich in dieser Zeit sehr isoliert. Als Folge der langen Diktaturzeit gab es kaum eine zeitgemäße Kunst­szene im Land. Ihre Videoarbeit „G. O. D. – General Observation Display“, die sie 1997 in Lissabon ausstellte, wurde zwar für ihre schönen Bilder und den brillanten Schnitt gelobt, doch inhaltlich fand keine Auseinandersetzung statt.

Noch im selben Jahr erhielt sie ein dreimonatiges Erasmus-Stipendium für Deutschland, obwohl sie kein Wort Deutsch konnte. Sie landete in Karlsruhe, in der Klasse des Bildhauers Stephan Balkenhol. In diese Zeit fiel auch ein dreitägiger schlafloser Besuch von Berlin. „Diese Stadt war genauso unfertig wie ich“, erinnert sie sich heute, und erschien ihr deshalb als genau die richtige Stadt, in der sie in Zukunft leben wollte.

Doch 1998, nach dem Abschluss ihres Studiums, fand sie zunächst nur eine Festanstellung bei Arri Arnold & Richter Cine Technik in München, bei der sie noch die gesamte analoge Filmtechnik lernte, weshalb sie seither viele ihrer filmischen Arbeiten auf 16-mm-Film produziert.

Parallel besuchte sie als ­Postgraduierten-Studentin die Klasse des Objektkünstlers Olaf Metzel. Metzel wurde vor allem durch sein Randale-Denkmal‘ bundesweit bekannt – einen Haufen rot-weißer Absperrgitter, gekrönt von einem Einkaufswagen –, das ursprünglich auf dem Berliner Kurfürstendamm aufgestellt war, doch nach Protesten an den Osthafen verbannt wurde. Provokation als Denkanstoß war Teil seiner Kunst und genau das, was César in ihren Arbeiten anstrebte.

Fremdheit und Utopie

2001 gelang ihr schließlich der sehnsüchtig erwartete Umzug nach Berlin und durch die Begegnung mit Kulturschaffenden wie Harun Farocki, Katja Diefenbach, Katharina Sieverding und Madeleine Bernstorff wurde ihr diese Stadt, und Deutschland an sich, zur geistigen Heimat. Fremdheit und Entfremdung werden in den Jahren danach zu ihren Themen in Arbeiten wie „Rapport“ (2007), „Allee der Kosmonauten“ (2007) oder „Porto 1975“ (2010). Häufig steht diese Fremdheit in Zusammenhang mit der Frage nach sozialen Utopien, und wie sich diese in städtischer Architektur manifestieren.

Ein Filmessay von Chris Marker, den sie kurz nach ihrer Übersiedlung nach Berlin sah, öffnete ihr den Blick für ein Thema, das seit ihrer Kindheit in der Familie César eine große Rolle spielt. Marker verdichtet in diesem Film Szenen aus Japan und Guinea-Bissau zu einem Bilderstrom, den er mit seiner Gedankenwelt verbindet: Beinahe 400 Jahre hatte die koloniale Präsenz von Portugal in Schwarzafrika angedauert, bis 1973 war Guinea-Bissau portugiesische Kolonie. Seit den 60er Jahren tobte hier ein blutiger Unabhängigkeitskrieg.

An diesem Krieg hatte Fi­lipa Césars Vater als Soldat teilnehmen müssen, nachdem er vergeblich versucht hatte zu desertieren. Als traumatisierter Heimkehrer begann er, mit Freunden subversive politische Literatur zu publizieren. Andere Freunde gründeten eine Untergrundorganisation, um Desertationen nach Frankreich zu ermöglichen. Einige Mitglieder dieser Gruppe landeten deshalb im Gefängnis.

Die Geschichte dieser Fluchthilfe nahm Filipa César in ihrer Arbeit „Le Passeur“ (Die Schmugg­ler) auf, um daraus eine Mehrfachprojektions-Installation zu gestalten. Sie interviewte die Beteiligten und filmte die Stellen an dem schmalen Grenzfluss, an denen die Flüchtenden von Portugal nach Spanien gebracht wurden. Die Präsentation von „Le Passeur“ in den Galerie-Räumen einer Bank in Lissabon führte 2008 zum Eklat. Die Arbeit wurde als ein „Schlag in den Bauch der Nation“, so eine Pressekritik, verstanden.

Die koloniale Geschichte und die Salazar-Zeit waren zu diesem Zeitpunkt in der Kunst­szene Portugals noch vollkommen indiskutabel. Die davon Betroffenen verheimlichten ihre Beteiligung. César hingegen hatte nun ihr Thema gefunden. „Wie sah eigentlich der Befreiungskampf vonseiten der Unterdrückten aus“, fragte sie sich. Auf der Suche nach filmischen Dokumenten dieses Kampfes bereiste sie Guinea-Bissau kreuz und quer. Sie stieß auf eine große Anzahl von Filmrollen, allerdings in schlechtem Zustand und schlecht gelagert. In Guinea-Bissau gibt es kein Geld für Filmarchivierung.

An diesem Krieg in Guinea-Bissau hatte Filipa Césars Vater als Soldat teilnehmen müssen, nachdem er vergeblich versucht hatte zu desertieren

Das Imaginäre einer Nation

Dieses Geld konnte die Künstlerin schließlich in Deutschland auftreiben. Anschließend ging sie mit dem digitalisierten Filmmaterial in Guinea-Bissau auf Tour. Leidenschaftliche Diskussionen fanden nach diesen Vorführungen statt, bei denen sich als Thema das „Imaginäre einer Nation“ herausschälte. Dieses Imaginäre ist es, was Filipa César in ihren aktuellen, ungeheuer dichten Bild-und- Text-Performances wie „Memograma“ (2010) „The Embassy“ (2011) und „Cacheu“ (2012) in seiner Entstehung untersucht.

Ausgelöst durch diesen Forschungsprozess las sie viel zu dem Thema, in erster Linie Texte von Frantz Fanon, Leopold Sédar Senghor und Édouard Glissant, bis sie auf den Autor Aimé Césaire stieß. Dieser war als Schüler von Fanon unterrichtet worden und hatte später, zusammen mit Senghor und anderen Autoren, das Konzept der Négritude entwickelt, in dem es um eine kulturelle Selbstbehauptung aller Menschen Afrikas und ihrer afrikanischen Herkunft geht. Aimé Césaires Essayband von 1955, „Discurso sobre o colonialismo“, war erst 1971 in portugiesischer Übersetzung erschienen, doch schon kurze Zeit darauf verboten worden. Für Filipa César bildet dieses Buch einen ungeheuer wichtigen Beitrag zum Verhältnis von Europa zu Afrika. Deshalb ließ sie es anlässlich einer Ausstellung ihrer Arbeiten in Luxemburg nachdrucken.

Für sie besteht zwischen dem „Discurso sobre o colonialismo“ und der derzeitigen Flüchtlingsbewegung, in deren Folge viele Hilfesuchenden grauenvoll im Mittelmeer ertrinken, ein zwingender Zusammenhang. Kolonialismus ist, so sieht es César, eine Denkweise, die die außereuropäische Politik bis heute brutal dominiert. Sie will mit ihrer Kunst die unterschwelligen Verwerfungen dieses Kolonialismus problematisieren.

Doch gibt es selbst in ihrem Leben Spuren dieses Kolonialismus. Seit ihrem achten Lebensjahr wurde sie von Emilia Cardoso aufgezogen. Immer wieder erzählte Cardoso von ihrer eigenen Migrationsgeschichte, erinnert sich die Künstlerin: „Sie war ein Flüchtling des dortigen Bürgerkrieges nach der Unabhängigkeit Angolas. Sie kam mit dem Flugzeug nach Portugal, durfte nur mitnehmen, was sie am Körper trug. Sie erzählte mir, dass sie mehrere Schichten Kleider angezogen hat und auf dieser Reise unglaublich viel schwitzte.“ Und noch heute arbeitet Emilia Cardoso für die Eltern von Filipa César.