Wo Srebrenica verdrängt wird

Diskussion Die Stiftung Überbrücken hat WissenschaftlerInnen und PublizistInnen eingeladen, um Srebrenica nach 20 Jahren neu zu betrachten

Auch 20 Jahre nach dem Genozid an mehr als 8.000 bosnischen Muslimen ist Srebrenica nicht vergangen. Noch immer werden Leichen identifiziert. 136 wurden am Samstag in Potočari beigesetzt. Zur Gedenkzeremonie kam auch der serbische Ministerpräsident Aleksandar Vučić. Für viele eine Provokation. „Für jeden Serben werden wir 100 Muslime töten“ stand auf einem Transparent – das sagte Vučić 1995. In Potočari wurde er nun mit Steinen beworfen. Am Ende nutzte das wieder den NationalistInnen: Was nämlich als Gedenken an die Opfer gedacht war, wurde von der Attacke überlagert.

Mit dem Verweis auf jene Gegenwärtigkeit des Verbrechens eröffnete am Samstagabend auch die Diskussion „20 Jahre nach Srebrenica: Lehren und Aktualität“. Die Stiftung Überbrücken hatte WissenschaftlerInnen und PublizistInnen in die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften eingeladen, um Srebrenica neu zu betrachten. Als ein „umstrittenes und nicht eindeutiges“ leitete der Historiker Étienne François das Thema etwas umständlich ein und meinte damit wohl das Versagen der internationalen Gemeinschaft beim Schutz der Flüchtlinge vor den bosnisch-serbischen Truppen. Von heute aus betrachtet, bedeutet das vor allem die Verdrängung von Srebrenica. „Abwehr“ ist für die Journalistin Caroline Fetscher darum ein zentraler Punkt.

„Es gibt eine Scham über die Unfähigkeit Europas, die Probleme anzugehen, darüber, dass man auf das Eingreifen der USA angewiesen war“, führt der Politologe Herfried Münkler aus. Edin Šarčević erläutert die Folgen für das internationale Recht. Der Jurist von der Universität Leipzig erklärt die Besonderheit des 1995 geschlossenen Dayton-Abkommens. Dort nämlich wurde eine exklusiv nationale Angelegenheit verankert: die Verfassung.

„Das Volk wurde suspendiert“, sagte Šarčević. Dass dieses in einer Ausnahmesituation entstandene Regelwerk heute Teil des Problems in Bosnien und Herzegowina ist, ist bekannt. Das Land ist in zwei Entitäten geteilt, zehn Kantone, hat Dutzende separate Ministerien, Parlamente, dazu eine gesamtstaatliche Bürokratie, drei Amtssprachen – die Ethnisierung ist total. Und so hat jenes Regelwerk, das „eine Befreiung von der ethnischen Säuberung“ (Šarčević) hatte sein sollen, sich letztlich in deren Dienst gestellt. Die begehrten Posten im monströsen Staatsgebilde bleiben entsprechend besetzt von jenen, denen die Segregation nutzt. „Es ist eine Institutionalisierung des Ungerechtigkeitsprinzips. Das Genozid wird zum konstitutionellen Prinzip des Rechts“, fasst Šarčević zusammen.

Bewegungsloses Europa

Nenad Stefanov, Historiker an der Humboldt-Universität, bestätigt diese pessimistische Sicht: „Die Segregation hat einen neuen Höhepunkt erreicht“, erklärt er. Damit meint Stefanov neben den Verwaltungsgrenzen auch die Außengrenzen der EU, die das ehemalige Jugoslawien zerschneiden. Konsequenzen hat das für den ganzen Balkan: Der Historiker verweist auf ­Mazedonien, wo die bedrohte Autokratie jüngst auf die Ethnisierung eines Konflikts zurückgriff.

Und der Ausweg? Die Ideen reichen von der Schaffung eines neuen Rechtssystems (Šarčević) über einen Kompromiss, der die nationalen Eliten befriedet (Münkler), bis hin zur Schaffung von Wohlstand als Basis der Demokratisierung (Stefanov). Die Politologin und Sozialdemokratin Gesine Schwan hält eine flammende Rede für die soziale Sicherung und zieht den Vergleich zum korrumpierten Deutschland nach 1945. „Der Sozialstaat hat mit dem Klientelismus gebrochen“, erklärt sie. Schwan sieht darum die EU in der Pflicht, soziale Sicherung durchzusetzen, statt Reformen, „die Korruption begünstigen“. Ein deutliches Statement, auch zur deutschen Austeritätspolitik. Schwan bekommt viel Applaus. Stefanovs wesentlich konkreteres Plädoyer für eine EU-Erweiterung auf den Westbalkan hingegen verhallt auf dem Podium.

Nicht einmal direkt angesprochen, wurde eines besonders deutlich: die Bewegungslosigkeit Westeuropas, die sich in der Fortschreibung der Verdrängung zeigt. Schon damals habe man sich nicht mit den Flüchtlingen auseinandergesetzt, Entschädigungen stünden bis heute aus, so Caroline Fetscher „Heute geht es darum Kontingente zu verwalten, nicht traumatisierten Menschen zu helfen“, sagt Fetscher. Es ist traurig, aber so gesehen hat Westeuropa wirklich nichts aus Srebrenica gelernt. Sonja Vogel