: Saudade und Schiebereien
Die brasilianische Fußball-Liga steckt in der Krise. Die Zuschauer bleiben aus, die Stars wandern ab, die Stadien sind marode. Die Zeichen des Niedergangs sind vielfältig. Nur ein Klub reüssiert
AUS RIO DE JANEIRO STEFFEN RÖSSEL
Wer in diesen Tagen die Sportseiten brasilianischer Tageszeitungen aufschlägt, dem kann Angst und Bange werden: leere Stadien, schwache Spiele, Entführungen, korrupte Präsidenten. Die Liste ließe sich fortführen. Und als ob dies alles nicht genug wäre, hat Brasilien einen Schiedsrichterskandal. Jüngst veröffentlichte das Magazin Veja unter dem Titel „Schmutziges Spiel“ eine Geschichte über den Fifa-Schiedsrichter Edilson Pereira de Carvalho, der bis dahin vor allem dadurch auffiel, dass er sich vor jedem Spiel theatralisch bekreuzigte und innig seine gelben und roten Karten küsste. Für eine Wett-Mafia soll er elf Ligaspiele verschoben haben. Mindestens. Auf neun Seiten wurden aufgezeichnete Telefonate wiedergegeben, die jeweiligen Spiele benannt und kommentiert – sowie zwei Tabellen gegenübergestellt: die aktuelle und die von Schiebereien bereinigte.
Klickende Handschellen
Keine vierundzwanzig Stunden später klickten die Handschellen, eine im Fernsehen immer wieder gezeigte Szene. Der Skandal als Endlosschleife. Unter der Last der Beweise legte der Schiedsrichter ein umfassendes Geständnis ab. Brasilien hatte seinen ganz eigenen „Fall Hoyzer“ und im Verband brach zeitweilig das Chaos aus. Luiz Zveiter, Präsident des Obersten Sportgerichts, meinte anfangs, eine Annullierung der Spiele wäre nicht notwendig. Wenige Tage später musste er eingestehen, dass dies der einzige Weg wäre, um sich gegen eine Prozesslawine der beteiligten Vereine, speziell derer im Abstiegskampf, zu schützen und die Transparenz in der Meisterschaft wenigstens halbwegs zu bewahren. Für Argentiniens Sportzeitung Olé war der Fall ein gefundenes Fressen. Höhnisch forderte das Blatt, die Zuschauer der verschobenen Partien zu entschädigen. Mittlerweile wittern sogar Bahia und Vitoria, beides Traditionsklubs aus dem Bundesstaat Salvador und gerade erst in die dritte Liga abgestiegen, wieder Morgenluft und haben ihre Wiedereingliederung in die erste (!) Liga gefordert.
Ein baldiges Ende dieser Geschichte ist nicht in Sicht. Ein weiteres Problem sind die gähnend leeren alten Betonschüsseln, welche inzwischen viel zu groß geworden sind für die wenigen Fans, die sich den Stadion-Besuch noch antun. Bei einer im letzten Jahr erstellten Umfrage des Fachblattes Lance bekannten zwar 33 Millionen Brasilianer, Anhänger von Flamengo, dem populärsten Klub des Landes, zu sein. Dennoch kommt der Klub nur auf einen Schnitt von etwas über 10.000 Zuschauern. Den anderen Vereinen ergeht es nicht viel besser. Die Gründe? Schlechter Komfort in den Stadien und schwache Spiele, denn die ganz großen Stars spielen längst in Europa. Auch gibt es viel zu viele Partien, die 22er Mammutliga erfordert 42 lange Spieltage, um Meister und Absteiger auszuspielen.
Matches, die an einem Donnerstag um 21.40 Uhr angepfiffen werden, gehören längst zur Normalität. Altprofi Edmundo, inzwischen beim moderaten Klub Figueirense aus Florianopolis unter Vertrag, kann es nicht fassen: „Ein Arbeiter, der am nächsten Tag arbeiten muss, ist so erst nach Mitternacht zu Hause. Warum also sollte er zum Spiel gehen?“ Generell sieht er im Fernsehen den Hauptschuldigen: „Das Fernsehen hat den Klubs die Sponsoren regelrecht weggenommen. Früher waren die großen Sponsoren wie Coca-Cola oder Parmalat auf den Trikots. Heute dagegen sind sie auf den Werbebanden, weil sie dort besser gesehen werden. Das Fernsehen hat einfach viel zu viel Macht“, fährt er fort.
„Das Chelsea Brasiliens“
Zudem fehlen vielen Vereinen ausgeprägte professionelle Strukturen. Die große Ausnahme ist Corinthians São Paulo. Sie können sich selbst Argentiniens Jungstar Carlos Tevez für zwanzig Millionen Dollar Ablöse leisten. Längst hat der Klub seinen ganz speziellen Spitznamen weg: „Das Chelsea von Brasilien.“ Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Klub zur „Spielzeugkollektion“ von Roman Abramowitch gehört, auch wenn offiziell eine Firma mit dem phantasievollen Namen „Media Sports Investments“ (MSI) die Geschäfte führt. Beide Klubs, Chelsea und Corinthians, haben sogar denselben Hauptsponsor. Nur Zufall? Zumindest sind die Dementis in den letzten Wochen merklich schwächer geworden.
Ein weiteres Merkmal des brasilianischen Fußballs ist der hitzige Transfermarkt. Mit gutem Beispiel voran gehen die Trainer. Die Herren Muricy Ramalho (Internacional Porto Alegre) und Abel Braga (Fluminense Rio de Janeiro) dürfen sich dabei zu einer mittlerweile seltenen Art zählen: Von allen Mannschaften sind sie die einzigen Übungsleiter, die seit Saisonbeginn noch bei ihrem Stammklub in Amt und Würden sind. Bei Corinthians steht in Antonio Lopes schon der dritte Trainer während der laufenden Saison an der Seitenlinie. Auch ist es derzeit groß in Mode, sich tränenreich vom eigenen Verein zu verabschieden, um in Japan eine „neue Herausforderung“ zu suchen. So weit so gut. Wenn dann aber wenige Monate später dieser oder jener Trainer respektive Spieler beim großen Stadtkonkurrenten wieder auftaucht, wundert sich der geneigte Beobachter doch ein wenig. Derart dreist war beispielsweise Emerson Leão, der sich vom FC São Paulo verabschiedet hatte – und damit den Gewinn der Copa Libertadores verpasste –, in Japan anheuerte, um dann kein halbes Jahr später beim Nachbarn Palmeiras auf der Trainerbank zu sitzen. Auch einige Spieler scheinen Verträge mit ultrakurzer Laufzeit zu bevorzugen.
Luizão kam in Berlin bei Hertha BSC nicht zurecht, er fühlte „Muita Saudade“, viel Heimweh nach seiner Heimat Brasilien. Bei seinem Stammklub – was für ein Zufall –, dem FC São Paulo, wurde er mit offenen Armen empfangen. Als er Mitte Juli, im Rückspiel des Finals der Copa Libertadores, ein Tor erzielte, hatte er Tränen in den Augen. Es waren traurige Abschiedstränen, denn er musste seinen geliebten Verein bereits wieder verlassen. In Japan hatte er ein Angebot bekommen, das er unmöglich ablehnen konnte. Wenige Tage nach dem gewonnenen Finale stieg er mit gesenktem Haupt ins Flugzeug nach Nagoya. Weg war er. Allerdings nicht lange. Am 26. September wurde er im Estadio Vila Belmiro der Presse vorgestellt. Feierlich zog er sich ein weißes Trikot über und auf dem Emblem, direkt über dem Herzen, waren folgende Initialien aufgedruckt: S.F.C, Santos Football Club. Es war der Verein, bei dem Pelé sein gesamtes Fußballerleben verbrachte. In die dicht vor ihm aufgestellten Mikrofone sagte Luizão mit belegter Stimme: „Dem großen Geld Japans habe ich die Möglichkeit vorgezogen, hier viele Titel zu gewinnen. Für meinen Klub werde ich keinen Ball verloren geben.“ Mal sehen, wie lange.
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