WIE SIND WIR DENN DRAUF?
: Auf Knopfdruck Berliner

Im Blick des Mittdreißigers liegt Verachtung. Ihm gegenüber habe ich mich gerade hingesetzt, in einem Waggon der U-Bahn-Linie 1, an einem bitterkalten Wintermorgen. Mit offenem Mund und stechenden Augen blickt er mir direkt ins Gesicht. Ich weiß, ich habe Ungeheuerliches getan: die U-Bahn-Tür offen gelassen. Wider besseres Wissen und meine eigentliche Gewohnheit. Nur um herauszufinden, wie es Menschen ergeht, die sich im Nahverkehrsnetz dieser Stadt nicht auskennen: Touristen. Neu Zugezogene. Autofahrer, die von vereisten Straßen fliehen.

Es gibt in den S-Bahnen und einigen U-Bahnen diesen kleinen Knopf. Jeder kann ihn drücken und die Tür schließt sofort. Das empfiehlt sich, wenn draußen Minusgrade herrschen und drinnen die Heizung bullert. Nur: Der Knopf ist versteckt. Neben der Tür, innen, seitlich. An kalten Tagen wie diesem entscheidet das Wissen um seine Existenz über Wohl und Wehe in Bahnhöfen, wo Züge eine Weile stehen, bevor sie weiterfahren.

Hier, an der Warschauer Straße, wartet die U-Bahn überirdisch, es ist eiskalt und zugig. Darum eilt fast jeder zur Tür, drückt den großen Außenknopf, huscht hinein in die Wärme und streckt den Finger sogleich zur Seite, in Richtung Innenknopf. Tür zu, kollektives Aufatmen: Die, die schon im Waggon sitzen, sind erleichtert, einen Eingeweihten unter sich zu wissen. Es bleibt warm, und gegen den Klimawandel hilft es sicher auch. Die Köpfe senken sich wieder gen Zeitung oder Smartphone – bis der Nächste die Tür öffnet.

Eigentlich mache ich es ja genauso. Tür öffnen, Tür schließen. Und wehe, einer tut es mir nicht gleich. Dann schaue ich ihn nicht nur böse an, dann stehe ich auf, gehe mit lautem Seufzen die zwei Schritte bis zur Tür und erledige demonstrativ, was doch eigentlich die Aufgabe des Neulings gewesen wäre: zuzumachen.

Paria der U-Bahn

Nun habe ich die Seiten gewechselt, die Tür offen gelassen. Wegen des hasserfüllten Starrens von gegenüber weiß ich jetzt, wie es sich anfühlt, zum Paria der U-Bahn gemacht zu werden, wegen dem bisschen kalter Luft. Beschissen fühlt es sich an. Erst als der Nächste eintritt und den kleinen Knopf drückt, hört es auf.

Ich werde die Tür in Zukunft wieder schließen, aber ich werde Ahnungslose nicht mehr an den Pranger stellen, Klimawandel hin oder her. Um den und um die Wärme geht es eh keinem. Wer den kleinen Knopf zum Stein des Anstoßes macht, will nur eins: sich abgrenzen. Von denen, die neu sind. Neu in der U-Bahn. Neu in der Stadt. Es ist nur eine Spielart des dummen Schimpfens auf Touristen oder des Klagens über die Gentrifizierung, in das eilfertig jeder Zugezogene verfällt.

Ich werde nett sein, lächeln, auf den Knopf zeigen und sagen: Guck mal, so bleibt’s schön warm hier. Die Neuen werden zurücklächeln und sagen: Alles klar! Und sogleich nicht mehr neu sein. Zumindest nicht in der warmen U-Bahn. SEBASTIAN PUSCHNER