NACHKRIEGSMODERNE Gegliederte Baukörper, in einer natürlichen Umgebung positioniert: Die Baukunst der Nachkriegszeit ist besser als ihr Ruf
: Epoche unter Generalverdacht

Nachkiegsmoderne von ihrer besten Seite: Grindelhochhaus in Hamburg-Eimsbüttel   Foto: Poupou l‘quourouce, Wikimedia

VON BETTINA MARIA BROSOWSKY

Kaum ein Begriff ist schwammiger, kaum ein Zeitabschnitt der jüngeren Architekturgeschichte bislang polarisierender als die so bezeichnete Nachkriegsmoderne. Es fängt schon mit der Datierung an. Kulturhistoriker unterteilen mittlerweile drei Phasen für Westdeutschland – eine Ostmoderne, seit 1990 ebenfalls Bestandteil des gesamtdeutschen Fundus, gehorchte einer anderen politischen und ökonomischen Chronologie.

Die erste Phase der westdeutschen Bauaktivität reichte vom Kriegsende bis zur Währungsreform 1948 und ist gekennzeichnet durch Provisorien und Reparaturen, 400 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt warteten auf Beseitigung. Mieten waren gedeckelt, Baustoffe rationiert, der Schwarzmarkt florierte. Ziegelsteine und Bauleistungen wurden gegen Viktualien getauscht, für gewöhnliche Sterbliche hob sich ohne Kalorien kaum eine Kelle, wie der Spiegel 1950 süffisant formulierte.

Eine zweite Phase begann mit der Aufhebung der Zwangsbewirtschaftung und Einführung der D-Mark 1948 sowie der Gründung der Bundesrepublik 1949. Das Wirtschaftswunder setzte ein. Rund drei Milliarden DM jährlich pumpte das erste deutsche Wohnungsbaugesetz ab 1950 in die westdeutsche Wirtschaft für den Bau von zuerst 1,8 Millionen Sozialwohnungen innerhalb von sechs Jahren. Neben die staatliche Wohnbaulenkung trat die privatwirtschaftliche Bauproduktion, auch die kommunale Reorganisation sowie der Wiederaufbau der Ortsbilder wurden in Angriff genommen.

Als Leitbild diente die gegliederte und aufgelockerte Stadt, das Gegenmodell zur hochverdichteten, als ungesund desavouierten steinernen Stadt der Gründerzeit, dem Ort kollektiven Traumas zudem seit den Feuerstürmen alliierter Bombardements. Die planerische Vorstellung entsprang internationalen Reformprogrammen, etwa der 1920er-Jahre, war aber auch in den Neugestaltungsplänen der NS-Zeit weitergepflegt worden. Die Stadtlandschaft als Komposition frei positionierter Bauformen in naturräumlicher Situierung, dazu nun auch die vor­ausschauend leistungsfähige Erschließung für die Individualmotorisierung erschienen als moderne, organische Gesetzmäßigkeit, der menschliche Lungenflügel diente als ihre formale Metapher.

Die Ausgangslage nach dem Krieg: zerbombtes Hannover Foto: dpa

In der Umsetzung zögerte man so auch nicht vor der Beseitigung noch vorhandener Baustrukturen. Hans Scharoun prägte 1946 den Terminus der durch Bomben vollzogenen mechanischen Auflockerung der Stadt, die es in das Gefüge gleichgewichtiger Straßen, Wirtschafts- und Wohnstätten weiterzuführen gelte. Beschwingte Schul-, Theater- und Geschäftshäuser mit papierdünnen Vordächern und gold­eloxierten Fassadenprofilen entstanden allerorten. Ein frühes, bescheidenes Beispiel im Wohnbau ist das Kreuzkirchenviertel in Hannover, bis 1951 auf genossenschaftlich eingebrachten Altparzellen erbaut, nachgerade ein kleinstädtisches Idyll inmitten des Zentrums.

In puncto Verkehrsplanung preschte Hannover ab 1949 voran. Ein Ring aus doppelspurigen Schnellstraßen von 50 Metern Breite umfährt seither die Innenstadt, ihr schwingender Verlauf trägt dem dynamischen Erleben motorisierter Bewegung Rechnung. Historische Reminiszenzen wie der axialsymmetrische Waterlooplatz wurden zum straßenflankierenden Grün, großflächige Kreisel sicherten den kontinuierlichen Verkehrsfluss, störende Straßenbahnen wanderten unter die Erde. Der Stadtraum wurde Ausdruck eines freirhythmischen Ordnungsprinzips, die Bebauungsdichte der Innenstadt blieb niedrig, Hochhäuser waren explizit ausgeschlossen. Verkehrserzeuger wie Behörden, Ministerien oder Firmensitze wurden an den Ring gelegt, nicht ins Zentrum. Die strategische Flächenakquise und der ästhetische Reiz der Straßenbauwerke ließen 1959 den Spiegel staunen: Das „Wunder von Hannover“ zierte seinen Titel.

Während Hannovers City-Ring die räumliche Logik der Stadt durchaus stärkte, gerieten andernorts Straßendurchbrüche zum Dauerproblem. In Braunschweig etwa wurde 1960 der Bahnhof aus der Stadtmitte herausverlegt und mit einer für das Verkehrsaufkommen völlig überdimensionierten Piste, die nie urbanes Leben entfaltete, ans Zentrum angeschlossen. Statt jedoch die verkehrsplanerische Fehlentscheidung zu erkennen, erhitzt die Baugestalt des Bahnhofs die Gemüter, etwa die 30 Meter hohe Scheibe der Bahnverwaltung.

Der latente Widerspruch zwischen der Aufrüstung der Städte für den motorisierten Individualverkehr und der reduzierten Dichte neuer, flächen­expansiver Bebauung der aufgelockerten Stadt wurde kaum thematisiert. Zu sehr schienen beide Ausdruck kulturellen Aufbruchs, einer Katharsis gleich sowohl der NS-Zeit als auch der verpönten historischen Stadt. Den knapp werdenden innerstädtischen Flächenreservoiren antwortete die städtebauliche Planung mit Wohnsatelliten vor der Stadt, Beispiel: die Neue Vahr in Bremen. Das größte zusammenhängende Vorhaben des sozialen Wohnungsbaus in Deutschland wurde als Musterstadt im Grünen für 40.000 Einwohner ab 1957 auf organischer Lageplangrafik errichtet. Sie wagt nun größere Bauhöhen: zu viergeschossigen Zeilen treten achtgeschossige Blöcke, 14-geschossige Akzente und als Krönung der 22-Geschosser Alvar Aaltos. Typologisch bildet die Neue Vahr den Vorboten der Megastrukturen der Jahre nach 1960 bis etwa 1975, der dritten und umstrittensten Phase der Nachkriegsmoderne.

65 Meter Moderne im Bremer Stadtteil Neue Vahr: Hochhaus von Alvar Aalto Foto: Jürgen Howaldt, Wikimedia

Ein gewisser Wohlstand, Vollbeschäftigung und der unerschütterliche Zukunftsglaube prägten diese eigentliche Ära des Wirtschaftswunders mit immenser Bautätigkeit und einem Rekord an Beschäftigten im Bauhauptgewerbe. Nicht nur der Wohnbau, auch die steigende Zahl von Büroarbeitsplätzen sowie die sich durch Bildungsreformen öffnenden Hochschulen generierten nun Baubedarf. Der gegliederten und aufgelockerten Stadt folgte als neues Leitbild die Urbanität durch Dichte, Geschosszahl und Grundstücksausnutzung stiegen. Eine handwerkliche Bauqualität der 50er-Jahre verdrängten zunehmend industrialisierte Technologien. Bausysteme als Additionen vorgefertigter Elemente prägten zeittypische, mitunter megalomane, mitunter nur bloß grobschlächtige Entwürfe, kaum eine Bauaufgabe, die nicht technologischer Programmierung unterzogen wurde.

Die Doktrin stadträumlicher Funktionstrennung der Zwischenkriegsjahre erlebte ihre Hochphase, etwa in der 120 Hektar großen City Nord in Hamburg-Harvestehude, eine Monostruktur amerikanischen Vorbilds aus Verwaltungshochhäusern, errichtet auf ehemaligen Kleingärten und Behelfsheimstätten. Der trotz proklamierter Verdichtung ungebremste Flächenfraß ereilte aber nicht nur suboptimal genutzte Areale – in Hamburg-Wandsbek etwa einen weiteren Kleingartenverein, der ab 1969 der 10-geschossigen Großsiedlung Steilshoop für 22.000 Einwohner weichen musste –, auch intakte Gründerzeitviertel gerieten ins Visier.

Dabei wendete sich langsam das Blatt. Als in Frankfurt das heruntergekommene, ehemals großbürgerliche Westend ab 1967 zur City-Erweiterung flächensaniert werden sollte, formierte sich Protest, die Hausbesetzerbewegung als Instrument politisierter Partizipation nahm ihren Beginn. Die Studie des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums im Jahr 1972 und die Ölkrise 1973 bremsten die Fortschrittseuphorie, das europäische Denkmalschutzjahr besiegelte 1975 den mentalen Umbruch. Bislang diskreditierte Bauepochen wurden rehabilitiert, ihre Bauviertel bald gentrifiziert. Auf dem spröden Charme der Nachkriegsmoderne lastet seitdem der Generalverdacht, in einem Erneuerungsfuror das Vermächtnis der Europäischen Stadt mit Füßen getreten zu haben.