Die Frau mit dem gefälschten Fragebogen

LEBENSKUNST Der finnische Autor Mikko Rimminen erzählt in seinem preisgekrönten dritten Roman, „Der Tag der roten Nase“, von einer Frau, die auf sehr erfinderische Weise und mit unerschütterlichem Optimismus der Gefahr sozialer Vereinsamung begegnet

Irma ist eine ungewöhnlich unspektakuläre Heldin. Eine Frau um die fünfzig, alleinstehend, ohne Arbeit, ohne Freunde, mit einem erwachsenen Sohn, der fast nie von sich hören lässt. Sie lebt, so kann man sich vorstellen, in einer Wohnung in einem gesichtslosen Neubau am Rande irgendeiner finnischen Stadt, ohne dass in ihrem Leben jemals etwas Aufregendes passieren würde. Mit dieser Art von Existenz ist Irma eine von Zigtausenden. Aber sie tut Dinge, die sie aus dieser Gewöhnlichkeit herausheben.

Durch einen Zufall landet sie eines Tages, in einem anderen Neubauviertel, in der Wohnung von Irja, einer jüngeren Frau mit Mann und Kindern, die Irma auf Anhieb sympathisch ist. Deshalb will sie nicht zugeben, sich in der Tür geirrt zu haben (sie hatte eine zu verschenkende Blattpflanze abholen wollen), und gibt vor, Umfragen für ein Marktforschungsinstitut zu machen.

Diese spontane Flunkerei verschafft ihr einen Kaffee, ein Gespräch und eine Art von Zuwendung, die Irma sonst nicht bekommt. Da sie Irja wiedersehen möchte, arbeitet sie zu Hause einen Fragebogen aus, der ihrer Legende Glaubwürdigkeit verschaffen soll. Mit dieser unvollkommenen Tarnung begibt Irma sich auf Tour durch das Viertel und macht dabei allerlei neue Bekanntschaften. Bis sie eines Tages auf eine krankhaft misstrauische Person trifft und ihre amateurhafte Maskierung auffliegt.

Der 37-jährige Mikko Rimminen, der für diesen, seinen dritten Roman den Finlandia-Preis bekam, ist ein sehr behutsamer, hintergründig humorvoller Begleiter seiner Figuren. Was man sich über Irma so denken kann, scheint in außergewöhnlich geringer Weise von einer auktorialen Instanz gesteuert zu sein. „Der Tag der roten Nase“ ist in Ich-Perspektive erzählt und berichtet ausschließlich von dem Leben, das Irma gerade passiert. Wir erfahren absolut gar nichts über ihre vorige Existenz; nichts über irgendwelche Beziehungen oder Bekanntschaften, und weder welchem Beruf sie nachgegangen ist, noch aus welchem Grund sie arbeitslos wurde. Man muss es sich aus äußeren Anzeichen zusammenreimen.

Allein die Mühe, die es Irma kostet, ihren Fake-Fragebogen zusammenzustellen, weist darauf hin, dass sie sicher keinen Beruf gelernt hat, der intellektuelle Fertigkeiten voraussetzt. Auch ihre Naivität im Umgang mit den Menschen, die sie trifft, spricht für eine eher schlichte Gemütsverfassung, ist jedoch zugleich Ausdruck einer sympathischen Unvoreingenommenheit.

Unbedarfte Heldin

Dass Irmas Sohn wahrscheinlich krumme Dinger dreht, ahnt man bei der Lektüre lange vor ihr, denn Irmas Fähigkeit, vorurteilsfrei auch auf die schrägeren unter ihren Zeitgenossen zu reagieren, wird höchstens geschlagen von ihrem Vermögen, sich etwas vorzumachen.

Der naive Tonfall von Irmas Geschichte wirkt wie eine Art Antidepressivum. Ihre Naivität geht einher mit einem unerschütterlichen Optimismus, der diese nett unbedarfte Heldin vor dem Gefühl der sozialen Einsamkeit schützt. Das hat sie auch gar nicht nötig, schließt sie doch letztlich Freundschaft dort, wo sie es gar nicht erhofft hatte. Es bleibt allerdings unklar, ob sie das überhaupt merkt. Mikko Rimminen, in dessen (ebenfalls auf Deutsch erhältlichem) „Tütenbierroman“ drei Männer dem Arbeitslosenalltag unter Zuhilfenahme von viel Kaffee und Bier lichte Seiten abtrotzen, hat mit „Der Tag der roten Nase“ eine Art weibliche Gegenwelt nachgeliefert. Eine anständige Frau wie Irma kann schließlich nicht den ganzen Tag mit einer Flasche in der Hand am Kiosk stehen, das geht nur bei Männern.

So setzt sich in Rimminens Romanen Stück für Stück ein freundliches soziales Panoptikum zusammen, das in mancher Hinsicht vergleichbar ist mit den Filmwelten des Aki Kaurismäki. Hier wie dort stehen Menschen im Mittelpunkt, denen das Leben manchmal übel mitspielt, aber die bei allen äußeren Widrigkeiten die großartige Kunst beherrschen, von Tag zu Tag zu leben. Das ist von sehr unspektakulärem Vorbildcharakter. Und sehr viel Kaffee ist dabei die unspektakuläre Droge Nummer eins.

KATHARINA GRANZIN

Mikko Rimminen: „Der Tag der roten Nase“. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. dtv, München 2013, 336 Seiten, 14,90 Euro