Der genaue Blickauf den Menschen

AUTORENTHEATERTAGE BERLIN Einen Schwerpunkt des Festivals bildeten Stücke aus München, Köln und Dresden, die von den Verbrechen des NSU und der verhinderten Aufklärung handeln

Szene aus „Mein deutsches deutsches Land“ von Thomas Freyer und Tilmann Köhler Foto: Deutsches Theater Berlin

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Das neue Drama geschieht hier. Wir leben mitten in ihm und verkennen es doch täglich dort, wo sich Ausländerfeindlichkeit und Normalität ununterscheidbar ineinanderschieben. Das zumindest ist eine Erkenntnis, die ein großer Teil der zu den Autoren­theatertagen eingeladenen Inszenierungen vermitteln will. Fünf von zwölf Gastspielen, die das Deutsche Theater an sein Haus geholt hat, weil dessen Texte als wichtig für die Gegenwartsdramatik angesehen werden, thematisieren die Verbrechen der NSU. Weitere erzählen vom Umgang mit Flüchtenden und Migranten. Gespräche docken daran an. Dem Theater, als Institution betrachtet, gelingt es dabei teilweise, sich selbst zurückzunehmen und zum Instrument einer notwendigen Kommunikation darüber zu werden, wer wir heute sind; teils klopft es sich auch auf die Schulter, gut gemacht, endlich dabei bei den wichtigen Themen.

Politisches Kalkül

Drei der Stücke, die von den Morden des NSU, der nicht geleisteten Aufklärung, der Vertuschung und vom Prozess gegen Beate Zschäpe in München erzählen, kamen aus München, Dresden und Köln, geschrieben von Elfriede Jelinek, Thomas Freyer und entwickelt von Nuran David Calis mit Anwohnern der Keupstraße in Köln-Mülheim, getroffen von einem Nagelbombenanschlag im Juni 2004. Sie alle teilten die Ernsthaftigkeit und die Empörung über die verhinderte Aufklärung der Morde aus rassistischen Vorurteilen in der Polizei und aus politischem Kalkül. Sie alle geißelten die Blindheit des Verfassungsschutzes, der vor allem sich selbst zu schützen scheint. In den Mitteln und der Form und in dem, was sie als Denken anstoßen, aber waren sie höchst unterschiedlich.

„Mein deutsches deutsches Land“ von Thomas Freyer hat Tilmann Köhler am Staatsschauspiel Dresden inszeniert. Im Rhythmus eines schnell geschnittenen Films werden drei Zeitebenen ineinander verschachtelt. Im „gestern“ sehen wir ein Mädchen und zwei junge Männer zur Gang werden, die sich über Liebe zur Gewalt und Hass auf Ausländer identifiziert. Im „heute“ will ein aufrechter Kommissar Morde an ausländischen Studenten aufdecken und wird von höheren Ebenen stets daran gehindert, in der rechtsextremen Szene zu ermitteln. Im „morgen“ steigen die Vertuscher auf zu den höchsten Verfassungsschützern und zum Kanzlerkandidaten. Das ist erzählt so spannend wie ein Politthriller, mit Tempo gespielt, unterhaltend auch in seiner Zuspitzung dessen, was wir über die realen Ereignisse wissen oder nicht wissen. Aber es bleibt in den kurzen Skizzen, die vier Schauspieler und zwei Schauspielerinnen verkörpern, oft auch stereotyp.

Das Gegenteil von diesem kleinteiligen und aufklärungsversessenen Text ist Elfriede Jelineks „Das schweigende Mädchen“ in der Inszenierung von Johan Simons an den Münchner Kammerspielen. Text und Inszenierung sind nicht einfach zu verstehen; viele Redewendungen und Bilder gleichen Kippfiguren, die eben noch in den Ritualen der Prozessordnung wurzelten, jetzt ins Sakrale kippen und dann ins Deutschnationale. Propheten, Engel und Schmerzensfiguren werden aufgerufen und wie ein Schleier an jener Stelle vorgezogen, an der eigentlich die Bekenntnisse der Täter stehen müssten. Die rhetorischen Figuren der Entschuldung der Täter und der Vertuscher wuchern und treiben irrsinnige Blüten. Immer wieder hängt sich der Text an dem auf, was nicht zur Sprache kommt in der Gerichtsverhandlung, um die Fehlstellen wortreich zu markieren. Die Schauspieler, unter ihnen Benny Claessens, Wiebke Puls und Thomas Schmauser, sind zwar großartig darin, auch emotional durch verschiedene Haltungen zu switchen, aber vieles passiert in diesem anspielungsreichen Text zu schnell. Man wünscht sich oft, die Textmaschine anzuhalten, diesen Satz zu zerlegen, um das ins Verhältnis Gesetzte und um die Ecke Gedachte besser verfolgen zu können.

Das stärkste Stück zum Thema war „Die Lücke“, von dem Regisseur Nuran David Calis, Bewohnern der Keupstraße in Köln und Schauspielern gemeinsam entwickelt und aufgeführt. Es ist das einzige Stück, in dem die, die als Opfer gemeint waren, selbst zur Sprache kommen. In 18 Kapiteln erzählen Ismet Büyük, Ayfer Sentürk Demir und Kutlu Yurtseven, die in der Keupstraße leben und arbeiten, und die drei Schauspieler Simon Kirsch, Thomas Müller und Annika Schilling von ihrer Begegnung, den unterschiedlichen Konstruktionen eines „Wir“, den Blicken aufeinander. Das beginnt bei Eingeständnissen von Vorurteilen und Selbstbefragungen, warum einen was eigentlich stört.

Die Lücke, die dem Stück seinen Titel gab, wird immer wieder neu definiert: als Unwissen, Desinteresse, Abgrenzung auf Seiten deren, die ihr Deutschsein, ihre Zugehörigkeit nie befragen müssen. Was dieser Inszenierung, in der Schauspieler und Laien immer auf Augenhöhe agieren, gut gelingt, ist zum einen, eine große Sensibilität herzustellen für das Messen mit zweierlei Maß im Blick auf „Deutsche“ und vermeintliche „Ausländer“ und für die Empörung über die langjährige Verdächtigung und Diskriminierung der Opfer der NSU-Anschläge und ihrer Familien. Zum anderen verzichtet die Inszenierung auf den Vorschein von Konsens, wo keiner zu finden war, sie spielt keine Harmonie vor, wo der Befund erst mal Nichtverstehen ist.

Nicht zuletzt ist im Verhältnis zu den anderen beiden Stücken die Konkretion hilfreich, der genaue Blick auf sechs Menschen, ihre Erfahrungen, Ängste und Hoffnungen. Aus dieser Aufführung nimmt man am meisten mit.