Die historischen Ironien und Brechungen

ARCHITEKTUR Das Stadtschloss wird ein brüchiger Bau – immerhin ist es möglich, die Mitte Berlins wie in einem differenzierten Geschichtsbuchzu lesen

Die moderne Rückseite des Schlosses Foto: Sabeth Stickforth / imago

von Sophie Jung

Als das Berliner Stadtschloss kürzlich Richtfest feierte, wurden landauf, landab wieder die großen Erzählungen aufgerufen. Ist mit dem Willen zur Rekonstruktion eine Flucht aus der Gegenwart verbunden? Vor allem diese Frage scheint den Bau selbst, der jetzt im Rohbau in der Mitte Berlins steht, immer noch zu überdecken. Für die Deutung dieses Bauprojektes ist aber auch einmal interessant, sich die Details dieses Gebäudes selbst einmal anzusehen. Sie sind schillernd genug und vielfältig wie in einem Geschichtsbuch.

Ein altes Streitgespräch der Architekturen kehrt mit ihm nach Berlin zurück. Das barocke Schloss, das jetzt so standhaft in der Stadtmitte seine wuchtigen Formen annimmt, fügt sich wieder in ein historisches Gebäudeensemble, das von 1698 bis 1905 von preußischen Königen und Kaisern errichtet wurde. Dem Barock von Andreas Schlüter, um 1698 entworfen, gewährt das Alte Museum (1825–1830) von Karl Friedrich Schinkel in seiner Anlehnung an die griechische Antike Einhalt, während schließlich der Dom (1894–1905) von Julius Carl Raschdorff, der in seiner neobarocken Wuchtigkeit alle anderen übertrumpfen will. Da mussten wohl die preußischen Herrscher immer noch einen draufsetzen, namentlich König Friedrich I., König Friedrich Wilhelm III. und Kaiser Wilhelm II.

Diese Geltungsansprüche aus der Geschichte Berlins werden jetzt wieder sichtbar und sie decken vielmehr Ironie auf. Dass dieses vergangene Konkurrenzspiel zwischen den drei Bauten mit dem Schlossneubau wieder Gestalt annimmt, sollte den Blick darauf lenken, was da jetzt eigentlich architektonisch in Berlin passiert.

184 mal 117 Meter ist der neue Schlossbau groß. Durch und durch aus Stahlbeton, ist er mit einer derart komplexen Gebäudetechnik ausgestattet, dass allein das ganze Untergeschoss damit gefüllt ist. Von 40 Prozent Technik spricht Manfred Rettig, Vorsitzender der Stiftung Humboldtforum – Berliner Schloss, stolz. An drei Außenfassaden wird das historische Schmuckwerk wieder zu sehen sein.

Prachtstück Schlüter-Hof

An ihnen ablesbar werden in Zukunft die wichtigsten Bauphasen der fürstlichen Residenz sein, angefangen mit dem Barock des großen Schlossbaumeisters Andreas Schlüter über seine Nachfolger Johann Friedrich von Eosander und Martin Heinrich Böhme bis zum Klassizismus Friedrich Schinkels und August Stülers, die beide an der Kuppel arbeiteten. Als einzig wilhelminisches Teil wird die Ornamentik am Kuppelportal rekonstruiert. Ebenso werden in Teilen zwei Innenhöfe wiederhergestellt, der Eosander-Hof und der Schlüter-Hof. Letzterer ist das eigentliche Prachtstück des zukünftigen Schlosses. Man arbeitet bereits im Detail daran.

Franco Stella, der diese Neo-Version des Berliner Schlosses entworfen hat, führt ein wichtiges Motiv in den Schlossbau ein: die Öffnung des Schlosses zur Stadt und zur Öffentlichkeit. Zwei Höfe werden in Zukunft immer zwischen Lustgarten und Rathausstraße geöffnet sein. Trotz wiedererstehender fürstlicher Architektur soll das zukünftige Schloss also kein monarchischer Riegel, sondern eine Passage für die Bürger werden.

Eine Jury, der damals unter anderem Wolfgang Thierse als Vertreter des Bundestages, Kulturstaatsminister Bernd Neumann, der Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee und Hermann Par­zinger, der heutige Direktor der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, angehörten, traf mit ihrer Bevorzugung von Stellas Vorschlag auch eine Entscheidung darüber, was architekturhistorisch in Berlin von Bedeutung sein soll und was nicht. Stellas Entwurf für ein rekonstruiertes Berliner Schloss kam einem Ideal besonders nahe: dem Entwurf von Andreas Schlüter, der um 1698 entstanden ist.

Es ist ein wirklich seltsames Ding, dieses neue Schloss. Es schwankt zwischen Nachahmung, ­Idealisierung und mutlosem Neubau

Schon seit dem späten 15. Jahrhundert existierte an der Spree ein kleines Renaissance-Schloss. Es war allerdings der barocke Bildhauer Andreas Schlüter, der für den damaligen Kurfürsten Friedrich III. den Vorschlag unterbreitete, den kleinteiligen Türmchenbau in ein einheitliches Barockschloss nach italienischem Vorbild umzuwandeln. Von Kunsthistorikern gerne als „Michelangelo des Nordens“ bezeichnet, hat Schlüter die politischen Bestrebungen des Kurfürsten und späteren ersten preußischen Königs wohl am besten in einer Architektur erfassen können. Das modernste Residenzgebäude Europas sollte das Schloss von Friedrich I. werden.

Es existieren noch vereinzelte Pläne und Risse aus der Zeit. Sie bilden nun die Grundlage für Stellas Wiederaufbau. Allerdings sind diese idealisiert, der Renaissance-Teil des Schlosses, der bis zur Zerstörung 1950 die Gestalt des Schlosses mitprägte, findet darin kaum Beachtung. Zudem vollendete nicht ­Schlüter, sondern seine Nachfolger ab 1706 das Schloss. Jeder von ihnen, vor allem Johann Friedrichvon Eosander, fügte jeweils eigene Details hinzu. An vielen Stellen muss heute gemutmaßt werden.

Schlüters Idee der Einheitlichkeit, gefasst in eine strenge Kubatur, Innenhöfe und Kuppelportal, wird nun von Stella nachgeahmt. Alle Teile nach Schlüter, wie etwa die zwei weiteren Innenhöfe, übernimmt der Architekt aus Vicenza. Das, was vor Schlüter da war, findet keinen Platz in der Rekonstruktion.

An der Stelle, wo einst das Renaissance-Schloss mit den königlichen Gemächern stand, setzt Stella nun ein modernes Belvedere. An den Partien, für deren Rekonstruktion man sich entschied, ist man gründlich. Skulpturenprogramm und Ornamentik zwischen Schlüter-Barock und Stüler-Klassik werden wieder hergestellt. Selbst die gleichen Materialien – Baustoffe stammen aus dem Elbsandsteingebirge und Schlesien – werden verwendet. Vorlage bieten Fotografien, von denen interessanterweise ein Großteil zu DDR-Zeiten kurz vor dem Abriss entstand.

Im Schlüterhof, auf dessen Baustelle jetzt schon die rekonstruierte Backsteinfassade langsam am modernen Betonkern hochklettert, werden bald wieder Schlüters Kolossalfiguren über kompositen Säulen thronen oder Reliefplatten mit Allegorien über das Bildprogramm eines barocken Königsschlosses Aufschluss geben.

Die fotografischen Abbildungen ermöglichen auch, historisch gewachsene Mängel des originalen Schlosses zu rekonstruieren. Beispiele sind Blendfenster und ein asymmetrisch angelegter Mittelrisalit im Schlüterhof. Beide vom Ideal abrückende „Mutationen“ wurden ursprünglich durch das Renaissance-Schloss bedingt. Als Relikte tauchen die vorbarocken Partien auf der Schlüter-Fassade wieder auf, aber nur als solche.

Mut zum Kontrast

Neue Perspektiven: Blick aus einem Saal des Schlosses auf den Berliner Dom Foto: Andreas Pein / Laif

Auf der einen Seite präzise Nachbildung, auf der anderen moderner Neubau. Stella wird die Spreefassade des Schlosses und Partien der Innenhöfe zeitgenössisch interpretieren. Doch seine modernen Hinzufügungen sind enttäuschend. Auf Schlüters und Eosanders barocke Raster in den Innenhöfen reagiert der Architekt aus Vicenza ebenfalls mit Rastern. Auf die rekonstruierten Sandsteinsäulen antwortet er seinerseits mit simplifizierten Säulen aus Architekturbeton. Die Ödnis der Wiederholung ist jetzt schon sichtbar. Anstelle von Mut zum Kontrast wird zögernde Zurückhaltung den Neubau charakterisieren.

Stellas Spreeseite ist besser. Hier, wo 1442 der erste Schlossbau errichtet wurde, fügt Stella das Belvedere als eigenständigen, zeitgenössischen Baukörper den Barockpartien an. Endlich löst der Architekt die historischen Proportionen, die er sonst nachahmt, auf. Wo in Zukunft die Sammlungen der Dahlemer Museen ausgestellt sein werden, öffnet sich der Bau mit riesigen, offenen Fensterflächen. Erneut etwas vorsichtig, legt Stella sie in ein gespreiztes Gitter aus verfeinertem Sichtbeton.

Das Innere wird modern – mit Wiederaufbau wird das nichts mehr zu tun haben. Ein technische anspruchsvoller Museums-Wissenschafts- und Repräsentationsbetrieb soll hier entstehen, mit Multifunktionssälen und Rolltreppen. Zwei Säle allerdings, an der Stelle des ehemaligen Rittersaals und des ehemaligen Elisabethsaals, zeigen eine Besonderheit. Ihre Säulen sind derart gerichtet, dass sich die historische Raumordnung rekonstruieren ließe – diese Möglichkeit wollte man sich doch noch offenlassen. So, wie ohnehin noch einiges an diesem Gebäude offen ist.

Es ist ein wirklich seltsamesDing, dieses neue Schloss. Es schwankt zwischen detailgetreuer Nachahmung, idealisierter Rekonstruktion und mutlosem Neubau. Innen hochmodern, außen ­architekturhistorisch unschlüssig oder zögernd zeitgenössisch. Ein brüchiger, gespaltener Bau. Von einem stolzen Glanz Preußens, den Kritiker hier wiedererrichtet sehen, kann man nicht sprechen. Von Trotz vielleicht, der nirgends so gut sichtbar wird wie an seiner betonierten Kuppel.