NS-Geschichte Bis 2013 galten sie als verschollen, nun liegt erstmals eine Gesamtausgabe vor: die Tage-bücher des NS-Ideologen Alfred Rosenberg
: Chefideologe der Vernichtung

NSDAP-Parteiphilosoph und Minister für die besetzten Ostgebiete, Alfred Rosenberg, während des Nürnberger Prozesses Foto: ap

von Rudolf Walther

Mit Joseph Goebbels war der 1893 in Reval (Tallinn) in Estland geborene Alfred Rosenberg der einzige unter den führenden Nationalsozialisten, der ein Tagebuch führte. Aber im Unterschied zu Goebbels bekleidete er kein Ministeramt und führte auch nicht kontinuierlich Tagebuch, sondern eher sporadisch.

Rosenberg war Publizist und Redakteur und wurde politisch mit dem dekorativen, aber lange einflusslosen Posten eines „Beauftragten des Führers für die gesamte weltanschauliche Schulung und Erziehung der NSDAP“ abgefunden. Erst mit Kriegsbeginn spielte der „monomanische Antisemit“ – so sein Biograf Ernst Pieper – eine wichtige politische Rolle bei der „Sicherung“, das heißt dem Raub jüdischer Kunstwerke, bei der Plünderung von Archiven und Bibliotheken im Rahmen des von ihm geleiteten, europaweit agierenden „Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg“. Stolz berichtete er, allein in Frankreich Kulturgüter im Wert von“ nahezu einer Milliarde Mark“ geraubt zu haben.

Nach dem Überfall von Hitlers Wehrmacht auf die Sowjetunion (22. 6. 1941) wurde Rosenberg „Reichsminister für die besetzten Ostgebiete“. Als solcher imaginierte er sich selbst als Herr über einen „Kontinent“ (Hitler) mit 180 Millionen Untertanen, was ihm seine Konkurrenten Himmler, Göring und Heydrich sowie viele Wehrmachtgeneräle übelnahmen. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess wurde Rosenberg zum Tode verurteilt und am 16. 10. 1946 hingerichtet.

Teile von Rosenbergs Tagebüchern aus den Jahren 1934/35 und 1939/40 edierte Hans-Günther Seraphim bereits 1956. Die schlecht lesbare Vorlage führte allerdings zu vielen Transkriptionsfehlern. Das vollständige Tagebuch galt als verschollen.

Diese Deutung war allerdings voreilig. Robert Kempner (1899–1993) – der Stellvertreter des amerikanischen Chefanklägers beim Nürnberger Prozess – nahm Teile des Tagebuchs in Privatbesitz. Erst aus dessen Nachlass kam dieser Teil der Tagebücher 2001 an das US-Holocaust Memorial Museum in Washington. 2013 wurde der Rest der Tagebücher gefunden und dem Museum übergeben.

Die Tagebücher bestätigen Hitlers Urteil, wonach Rosenberg „der Kirchen­vater des National­sozialismus“ sei

Die im Tagebuch noch bestehenden Lücken erklären die Herausgeber plausibel als Kriegsverlust, insofern handelt es sich bei der vorliegenden Ausgabe um die erste Gesamtausgabe der Rosenberg-Tagebücher, die die beiden Herausgeber mustergültig edierten und sachkundig kommentierten.

Die Tagebücher bestätigen zunächst Hitlers Urteil, wonach Rosenberg „der Kirchenvater des Nationalsozialismus“ sei. Zeit seines öffentlichen Lebens war der Antisemitismus „der Fixpunkt seines manichäischen Weltbildes“ (Matthäus/Bajohr) und die „Lösung der Judenfrage“ Rosenbergs Hauptbestreben. So früh und so eindeutig wie kaum jemand sonst identifizierte Rosenberg „die Lösung des Judenfrage“ mit „der Vernichtung“ des „jüdischen Parasitenvolks“.

Noch am 2. 4. 1941 galt ihm der Osten als „Abschubgebiet für unerwünschte Bevölkerungselemente in größerem Ausmaß“. Je mehr der Vorstoß der Wehrmacht nach Osten ins Stocken kam, umso klarer und selbstverständlicher wurde für Rosenberg, dass eine Deportation von Juden und anderen Feinden illusorisch wurde.

Für ihn wie seinen Abteilungsleiter Otto Bräutigam (1895–1992), der es nach 1945 zum Ministerialdirigenten im Bonner Auswärtigen Amt brachte, stand bereits im Oktober 1941 fest, dass sich die „Liquidierung der Kommunisten und Juden“ von selbst verstehe. Vor versammelter Presse verkündete Rosenberg am 18. 10. 1941: „Im Osten leben noch etwa sechs Millionen Juden, und diese Frage kann nur gelöst werden in einer biologischen Ausmerzung des gesamten Judentums in Europa.“

Die Umsetzung dieser Ziele gestaltete sich schwierig, weil sich die verschiedenen beteiligten Institutionen des Reiches – von den Ministerien über die Parteiorgane bis zu vielen Einheiten der Wehrmacht und Himmlers mörderischen Polizeitruppen – im permanenten Kompetenzstreit befanden. Hinzu kamen primadonnenhafte Allüren, besonders bei Rosenberg, die etwa Himmler beklagte: „mit oder gar unter Rosenberg zu arbeiten“ sei „bestimmt das Schwierigste, was es in der NSDAP gibt“. Allerdings stritten sich führende Protagonisten in den nationalsozialistischen Institutionen nicht etwa um ­politische Ziele und Motive, sondern lediglich um die Methoden der Vernichtung von Feinden und die effizienteste Art der ­Ausplünderung des eroberten Ostens.

Die vorliegende Gesamtausgabe der Tagebücher Rosenbergs dokumentiert ein weiteres Mal, dass Rosenbergs „Reichsministerium“ kein bloßer Zuschauer bei der „Endlösung der Judenfrage“ war, sondern über die fortschreitende Entfesselung der Gewalt bestens informiert und in einzelne Entscheidungen auch eingebunden war.

Mehr als leise Kritik am „falschen Herrentum“ von Sicherheitspolizei und Einsatzgruppen sowie Heuchelei über den massenhaften Hungertod sowjetischer Kriegsgefangener unter den Augen der Wehrmachtsführung brachte Rosenberg nicht auf. Das Abgründige der nationalsozialistischen Führungsriege spiegelt sich in Rosenbergs Person.

Jürgen Matthäus/Frank Bajohr (Hg.): „Alfred Rosenberg. Die Tagebücher von 1933 bis 1944“. S. Fischer, Frankfurt/Main 2015, 650 S., 26.99 Euro