Düpierter King

AMERICAN PIE Die Golden State Warriors gewinnen den NBA-Titel und Andre Iguodala wird zum wertvollsten Spieler gewählt. Und LeBron James?

O güldener Pott! Andre Iguodala himmelt die Siegestrophäe an Foto: dpa

Nein, Steve Kerr sollte nicht versuchen, demnächst als Meteorologe sein Geld zu verdienen. Als er sich aufs Podium der Pressekonferenz setzte, die Haare feucht, das blaue Hemd durchnässt am Körper klebend, versuchte er seinen Zustand mit den klimatischen Bedingungen zu erklären: „Draußen regnet es“, sagte er und erntete ein paar Lacher. Es war ein Witz: Denn draußen, auf den vollkommen trockenen Straßen Clevelands, feierten die Fans der Golden State Warriors. Und Kerr, der Trainer der Warriors, war nicht nass vom Regen, sondern vom Sekt, mit dem ihn seine Spieler übergossen hatten.

Das mittlerweile international übliche Siegesritual war nötig geworden, weil die Warriors das sechste Spiel der NBA-Finalserie gegen die Cleveland Cavaliers gewonnen hatten. Nach dem 105:97 stand fest: Der im kalifornischen Oakland beheimatete Klub hatte seinen vierten NBA-Titel gewonnen, den ersten seit 1975.

Zum „Most Valuable Player“, zum wertvollsten Spieler der Finalserie, wurde Andre Iguodala gewählt. Das war eine umstrittene Wahl, nicht nur beim fachkundigen Publikum in der Arena in Cleveland, das die Verleihung der MVP-Trophäe mit einem herzhaftem Buh-Konzert begleitete. Nicht nur Cavs-Fans waren der Meinung, die Auszeichnung hätte einem anderen gebührt: Denn LeBron James war, wenn auch Mitglied der unterlegenen Mannschaft, zweifellos der beste Spieler auf dem Parkett gewesen – und das mit großem Abstand.

Nichts gegen Iguodala. Der hatte in der letzten, entscheidenden Partie immerhin 23 wichtige Punkte erzielt, so viele, wie in der ganzen Saison noch nicht. Der US-Nationalspieler brachte das Kunststück fertig, der erste MVP zu sein, der nicht jedes Spiel in der Startformation begonnen hatte. Noch zu Beginn der Finalserie war Iguodala – wie in der Saison üblich – von der Bank gekommen. Erst als die Warriors mit 1:2 Siegen hinten waren, holte Coach Kerr den 31-Jährigen zurück in die erste Fünf. Defensivkünstler Andre Iguodala sollte sich noch ausgiebiger um die Verteidigung von LeBron James kümmern. Der Schachzug hatte Erfolg: Iguodala konnte Superstar James zwar nicht ausschalten, aber ­machte ihm das Leben wenigstens so schwer, dass dem Superstar gegen Ende der Partien ein wenig die Luft ausging.

Trotzdem waren sich die Kommentatoren schon vor dem letzten Spiel einig: „King“ James ist der wahre MVP. Traditionell geht die Finals-MVP-Auszeichnung zwar an den besten Spieler der siegreichen Mannschaft, so wie 2011 an Dirk Nowitzki. Erst ein einziges Mal wurde ein Akteur des Verliererteams ausgezeichnet: In der Finalserie 1969 machte Jerry West im Schnitt 38 Punkte, aber seine Los Angeles Lakers unterlagen trotzdem in sieben Spielen gegen die Boston Celtics.

Doch selbst Wests Leistung von einst erscheint marginal im Vergleich zu dem, was James 46 Jahre später stemmte. Weil mit Kevin Love und Kyrie Irving ausgerechnet die beiden anderen Aushängeschilder der Cavaliers verletzungsbedingt fehlten, mühte sich James nicht nur, Steph Curry, den zum überragenden Spieler der regulären Saison gewählten Star der Warriors, in den Schatten zu stellen. Er fühlte sich offensichtlich auch gezwungen, das Spiel seiner Mannschaft nahezu komplett zu übernehmen.

Am Tag vor Spiel Nummer sechs hatte James auf die Frage, was ihn daran glauben lasse, die Niederlage noch abwenden zu können, geantwortet: „Ganz einfach. Ich bin der beste Spieler auf der Welt.“ Trotzdem gab es niemanden, der dem 30-Jährigen Arroganz unterstellt hätte. Denn James schlüpfte in die Rolle des Aufbauspielers, wühlte unterm Korb nach Rebounds, verteilte Pässe, versenkte Dreier, dribbelte zum Brett und verteidigte oft auch noch gegen den gefährlichsten Spieler des Gegners. Am Ende hatte LeBron in den sechs Finalspielen im Schnitt 35,8 Punkte, 13,3 Rebounds und 8,8 Assists erzielt, aber trotzdem verloren, weil er vom Rest seiner Mannschaft zu wenig Unterstützung bekam. Die biederen Mitspieler hatten den König im Regen stehen lassen. Thomas Winkler