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BiografieGegen das Vergessen

Lukas Wallraff
Kommentar von Lukas Wallraff

Murat Kurnaz hat ein Buch geschrieben: über seine Haft in Guantanamo...

Der Mann mit dem Bart: Murat Kurnaz Bild: dpa

E s ist ein Buch, das weh tut. Und das ist gut so. Wer dieses Buch liest, wird es lange nicht vergessen. Was Murat Kurnaz in seinem neuen Bericht über die letzten fünf Jahre seines Lebens im US-Gefangenenlager Guantánamo schildert, kann niemanden kalt lassen, der zumindest über einen Hauch von Mitgefühl verfügt.

Kurnaz beschreibt nicht nur, wie er selbst immer wieder geschlagen, gedemütigt und bedroht wurde. Er beschreibt, fast noch eindringlicher, was er sah. Was andere Gefangene erlitten. Wie andere Häftlinge starben. Sein "Bericht aus Guantanamo", den er mit dem Journalisten Helmut Kuhn verfasste, ist eine Anklage. Er beschreibt ein System der Gewalt und Willkür, mit dem die Deutschen mehr zu tun haben, als sie wahr haben möchten.

Auch wer bisher dachte, er wisse schon, dass es in Guantánamo schlimm zugeht, wird erschrecken. Wer davon ausging, es gebe dort wenigstens einen Rest von Zivilisation, etwa Ärzte, die den Häftlingen im Notfall helfen, wird eines Schlechteren belehrt. "Dann erschienen zwei Männer", erzählt Kurnaz an einer Stelle, "sie trugen Uniform, aber auf dem Brustschild des einen stand das Wort ,Doctor. Das machte mir wirklich Angst." Er hatte mehr Angst, auf die Krankenstation gebracht zu werden, als zum x-ten Mal in eine Isolationszelle gesperrt zu werden - ohne Tageslicht, ohne Frischluftzufuhr. In der Krankenstation, das hatte er mitbekommen, schnitten Ärzte einem Häftling acht Finger ab, einem anderen zogen sie acht Zähne. Er selbst traf Ärzte nur dann, wenn sie kontrollierten, wie sein Körper darauf reagierte, stundenlang an Handschellen aufgehängt an der Wand zu hängen.

Es gibt nur eine Möglichkeit, Kurnaz Beschreibung der brutalen Gewalt nicht an sich heranzulassen: ihm nicht zu glauben. Alles für ausgedacht oder aufgebauscht zu halten. Doch dafür gibt es keinen Grund. Kurnaz hat sich seit seiner Freilassung 2006 mehrmals öffentlich geäußert. In langen Fernseh- und Zeitungsinterviews. In einer langen Befragung im Untersuchungsausschuss. Er hat sich nie widersprochen. Nichts wurde widerlegt.

Die amerikanischen und deutschen Behörden versuchten fünf Jahre lang alles, wirklich alles, um Kurnaz eine Straftat nachzuweisen. Ergebnis: Null. Die Behörden, auch die deutschen, wussten von Anfang an, dass er nie in Afghanistan gekämpft hatte, sondern Ende 2001 in Pakistan von Kopfgeldjägern verschleppt und an die USA verkauft wurde.

In seinem Buch berichtet Kurnaz von einem Gespräch mit einem amerikanischen Beamten: " 'Ich weiß', sagte ich in diesem Verhör, 'Sie haben sich mehr vorgestellt für die 5.000 Dollar, die Sie für mich bezahlt haben.' '3.000.', sagte der Vernehmer. 'Wir haben nur 3.000 Dollar für dich gezahlt.' Da wusste ich, dass es stimmte." Es half ihm nichts. Als ihn deutsche Geheimdienstler im September 2002 in Guantánamo besuchten, schreibt er, schöpfte er neue Hoffnung. Er erzählte ihnen von seiner Reise durch Pakistan, wo er Koranschulen besuchte - und bei einer Buskontrolle aufgegriffen wurde. Tatsächlich berichteten die Geheimdienstler ihren Chefs zu Hause, Kurnaz sei - auch aus Sicht der amerikanischen Kollegen - höchstwahrscheinlich unschuldig. Es half ihm nichts.

Trotzdem blieb er in Haft. Trotzdem wurden in den letzten Monaten immer wieder die Verdachtsmomente gegen Kurnaz, die es anfangs gab, von deutschen Politikern und Medien ausgebreitet - um das Verhalten der rot-grünen Politiker zu rechtfertigen, die ihn fünf Jahre lang partout nicht zurück nach Deutschland lassen wollten. Auch nicht, als die USA seine Freilassung in Aussicht stellten.

"Ich hoffe, dass meine Unschuld eines Tages nicht mehr angezweifelt wird", schreibt Kurnaz am Ende. Es ist ein Appell an Politiker wie den früheren Innenminister Otto Schily. Er hatte den heute 25-jährigen Bremer im März erneut als "potenziellen Gefährder" bezeichnet und erklärt, wie dubios es gewesen sei, dass er 2001 ohne Arabischkenntnisse, aber "mit einem Fernglas bewaffnet", nach Pakistan reiste.

Kurnaz liefert all jenen, die Schily mehr vertrauen als ihm, nun eine Begründung für seine Reisepläne: "Ich hätte mir auch eine Islamschule in der Türkei oder in Saudi-Arabien aussuchen können. Aber die Türkei kannte ich schon, und Pakistan interessierte mich. Ich hatte nur Gutes von dieser Koranschule gehört, und ich würde in Pakistan mit wenig Geld auskommen können. Die Sprache, dachte ich, würde ich schon lernen." Er lernte tatsächlich ein wenig Arabisch - aber vor allem in Guantánamo.

So nachdrücklich er seine Unschuld zu belegen versucht: Kurnaz stellt sich nicht als Engel dar. Kurnaz präsentiert sich nicht als der Gandhi von Guantánamo. Er beschreibt, wie er sich wehrte, wie er besonders sadistische Wärter anspuckte und verletzte.

Er will nicht nur als Opfer gesehen werden, sondern als Mensch, ja, ganz betont als Mann, der sich nicht brechen ließ.

Es ist ein Buch, das zum Nachdenken zwingt. Das man nicht einfach weglegen und abhaken kann - so wie die Berliner Politik den Fall Kurnaz nach den Auftritten der Minister im Untersuchungsausschuss abgehakt hat.

Sein Buch, auch das muss gesagt werden, macht ein schlechtes Gewissen. Als Kurnaz schon zwei Jahre in Guantánamo war, bekam er Zeitungsausschnitte zu sehen, in denen er als "der Bremer Taliban" bezeichnet wurde. Er schreibt: "Der Bremer Taliban? Das machte mich wütend. Glaubten die Leute in Deutschland wirklich, ich sei ein Taliban?" Vielleicht nicht alle. Aber hat sein Schicksal die meisten wirklich interessiert? Wohl eher nicht.

"Hier finde ich wieder meinen inneren Frieden", hat Kurnaz jetzt einem Reporter der Zeit gesagt, der ihn in seiner Heimatstadt Bremen besuchte. Man kann es ihm nur wünschen.

Murat Kurnaz: "Fünf Jahre meines Lebens". Rowohlt Berlin, 16,90 Euro

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Lukas Wallraff
taz.eins- und Seite-1-Redakteur
seit 1999 bei der taz, zunächst im Inland und im Parlamentsbüro, jetzt in der Zentrale. Besondere Interessen: Politik, Fußball und andere tragikomische Aspekte des Weltgeschehens

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