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BiografieKindheitsmuster

Kommentar von Wiebke Porombka

In ihren Romanen erzählen Pawel Sanajew, Wojciech Kuczok und Erwin Mortier wie grausam Kindheit sein kann. Ob in Holland, Polen oder Russland.

N ovalis wars, der einst die Utopie der Romantiker mit dem Hinweis auf Kinder erklärte: Wo die sind, da soll das goldene Zeitalter sein. Die Kindheit sei das Ideal, dem sich die kaputte Zivilisation wieder annähern soll. Für die literarischen Helden der Gegenwart muss das einigermaßen höhnisch klingen. Denn was der russische Autor Pawel Sanajew, der in Polen geborene Wojciech Kuczok und der aus den Niederlanden stammende Erwin Mortier über die Kindheiten in den 1970ern erzählen, nimmt sich reichlich düster aus. Und ganz bestimmt ist es keine Lebenszeit, die man sich zurückwünscht.

Die Leidenschaft allerdings, mit der sich die drei Autoren dieses düstere Kapitel dennoch vergegenwärtigen, zeigt nicht nur, wie nah man immer noch dran ist an dem, was man längst für abgeschlossen hielt. Sie zeigt auch, wie erst durch das Erzählen der Bann gebrochen wird, in dem die Kindheit einen zeitlebens gefangen hält. Wenn es nicht eigentlich perfide wäre, müsste man nach der Lektüre dieser drei Romane zu dem Schluss kommen, dass gerade dort ein entfesselter Erzählstrom losgetreten wird, wo die Grenzen der Kindheit besonders eng gesteckt waren.

Pawel Sanajew entwirft in seinem Debütroman "Begrabt mich hinter der Fußleiste" die Kindheit als einen Albtraum auf zwei mal zehn Quadratmetern. In der bis unter die Decke vollgerümpelten Wohnung seiner Großeltern lebt der neunjährige Sascha. Den meisten Platz in den zwei Zimmern nehmen zwei riesige Kühlschränke ein. Der eine ist mit abgelaufenen Konserven, der andere mit alten Pralinenschachteln und Sardinenbüchsen gefüllt. Die Großmutter hat sie gesammelt, um die reichlich konsultierte Moskauer Ärzteschaft immer mal wieder mit kleinen Überraschungen günstig zu stimmen. Denn ihr Enkel ist ein extrem kränkliches Kind, das sich schon beim kleinsten Luftzug den Tod holen kann. Es ist fast schon ein Wunder, dass Sascha unter den allerstrengsten Diätvorschriften und Hygieneregeln, den gnadenlosen Einwicklungen in Wollstrumpfhosen und Strickschals und den bedingungslosen Schwitz- und Bewegungsverboten seiner Großmutter nicht gnadenlos zu Grunde geht. Verwundern mag auch, dass die laut Selbstauskunft aufopferungsvolle Großmutter ihren geliebten Enkel im Minutentakt mit Beschimpfungen und Drohungen attackiert. Gern wird dem Enkel, dem "stinkenden Aas", dem "dreimal verfluchten, verkommenen Miststück", bescheinigt, dass er spätestens mit sechzehn Jahren verfault und begraben sein wird.

Während sich Sascha mit diesen Prophezeiungen einigermaßen eingerichtet hat, wird dem Leser immer klarer, dass es sich bei seinen Gebrechen um die wahnhaften Konstrukte seiner Großmutter handelt. Aber es kommt noch schlimmer: Sascha muss all die Demütigungen keineswegs erdulden, weil seine Mutter nicht mehr lebt. Es ist die Großmutter selbst, die darauf besteht, dass Sascha sein Leben bei ihr fristet. Während die Mutter den Sohn nur alle zwei Wochen besuchen darf, versucht sie den Enkel in ihrem furchtbaren Bannkreis zu halten, um sich mit ihm gemeinsam das Leben schwer zu machen.

Dem 1969 geborene Pawel Sanajew gelingt mit dieser Kindheitsgeschichte ein Porträt der alten familiären Herrschaftsstrukturen in der Sowjetunion, das bis auf das Leben im postkommunistischen Russland durchblicken lässt: auf eine von außen mitunter kaum nachvollziehbare Fähigkeit nämlich, sich selbst in unverhältnismäßigen Machtstrukturen irgendwie einzurichten. Erzählt wird das alles mit einem so unglaublich tragischen Witz und einer so witzigen Tragik, dass (man kann es ja einfach mal in aller Schlichtheit sagen) der Leser zuweilen Rotz und Wasser heult. Dass aber weder der Leser noch Sascha gänzlich in Schwermut versinken, liegt daran, dass Sanajew als gelernter Drehbuchautor seinen Kindheitsmartyrien in eine gut kalkulierte Form gebracht hat. Immer wieder gibt er dem bedrückenden Geschehen ein so hohes Tempo, dass selbst die brutalsten Situationen zu grandiosen Slapsticks werden. Zum Beispiel dann, wenn das mit aller Vorsicht und Akribie geplante Baderitual (Vorsicht! Lebensbedrohliche Zugluft!) damit endet, dass Sascha samt Kleidung in der Wanne landet und der herbeigeeilte Großvater die glühende Heizsonne versehentlich in den Schoß der Großmutter wirft. In welchen Beschimpfungsgewittern die beiden untergehen, kann man sich leicht denken.

Reichlich geflucht wird auch im Roman "Dreckskerl" von Wojciech Kuczok, einem der meist gelobten Romane dieses Frühjahrs. Während die großmütterlichen Machtrituale in Sanajews Roman einem komischen Kafka alle Ehre machen, ist das Feindbild in Kuczoks Buch klarer konturiert. Eine "Antibiographie" lautet der Untertitel, erzählt wird von den brutalen Züchtigungsritualen, denen der Erzähler von seinem Vater unterworfen wird.

Der Erzähler selbst nennt ihn nur "den alten K.". Das Wort Vater kommt ihm auch rückblickend nicht über die Lippen. Ähnlich wie bei Sanajew ist es eine krude Mischung aus Schwächlichkeit und Aufbegehren, die dem Jungen vorgeworfen wird und die immer wieder zum Auslöser von Bestrafungen wird. Das wirklich Tragische dieser Kindheit enthüllt sich aber erst in dem Moment, als es für den Jungen die Gelegenheit gibt, seiner Kindheitshölle wenigstens für kurze Zeit zu entfliehen. Seine Eltern haben ihn für mehrere Wochen in ein Erholungsheim fernab der Heimatstadt geschickt. Aber auch wenn er hier vor der Gewalt des Vaters verschont bleibt, hält er es nicht lange aus. Von Heimweh zerrissen, flieht er zurück in das, was ihn doch eigentlich quält.

Dass Kuczoks Roman im Gegensatz zu dem von Sanajew ganz und gar nicht lustig ist, liegt an der Wut des Erzählers über ein Leben, das den stupiden Kreisläufen einer vom Vater diktierten Gewalt unterliegt. Diese Wut reicht bis in den letzten Teil des Buches hinein, wo der mittlerweile erwachsene Protagonist sich zu Wort meldet. Aus dem seit Generationen im Besitz der Familie stehenden Haus ist er ausgezogen. Nun betrachtet er den langsamen Verfall der Mauern, der mit dem psychischen und physischen Verfall der Eltern einhergeht. Aber dieses Poröswerden reicht nicht aus, um die Kindheit wirklich loszuwerden. Dafür braucht es ein fast schon apokalyptisches Finale, in dem sich die ganze wütende Verzweiflung des Erzählers entladen kann: Ein sintflutartiger Regen geht nieder, und das alte Haus versinkt samt der Eltern in einer riesigen Schlamm- und Jauchelawine. Es bleibt der Anblick des Vaters, erschlagen von den einstürzenden Mauern, den Mund mit Lehm verstopft. Erst als auf diese Weise der "alte K." für immer zum Schweigen gebracht ist, kann der Sohn mit dem Erzählen beginnen.

Für derartige Rachefantasien gibt es in Erwin Mortiers "Belichtungszeit" keinen Anlass. Hier wird - abgesehen von den bösartigen Sticheleien des Dorfschullehrers - weder gedemütigt noch geschlagen. Die Kindheit von Joris ist stattdessen von einer Melancholie beherrscht, die sich in der ruhigen, fast tastenden Sprache des Erzählers niederschlägt. Die Mutter hat sich mit einem pomadigen Spanier abgesetzt. Der Vater liegt auf dem benachbarten Friedhof, über den der Junge an den vielen einsamen Nachmittagen schlendert. Onkel und Tante, bei denen Joris aufwächst, können die Einsamkeit nicht wirklich lindern, auch wenn sie von einer gutmütigen Herzlichkeit sind.

Mehr als bei Kuczok und Sanajew ist es bei Mortier das Erinnern selbst, das in den Vordergrund rückt. Alte Fotos geben den Anlass dafür, immer neue Geschichten aus längst vergangenen Kindertagen zu erzählen. Mortier stellt diesen Vorgang auf etwas bemühte Weise aus und so überzeugt nicht so recht, was den beiden anderen Autoren scheinbar mit solcher Leichtigkeit glückt: das Verhältnis von kindlichem Blick und erwachsenem Schreiben auszubalancieren. Die nachmittägliche Stille des menschenleeren Marktplatzes wirkt zu still, der Duft aus den Flakons und Bonbonieren des hauseigenen Krämerladens zu verführerisch. Der proustsche Madeleinefaktor ist von Mortier so genau berechnet, dass die Rechnung am Ende nicht aufgeht und die Erinnerung an die Kindheit ihre Lebendigkeit verliert.

In allen drei Romanen werden keine großartigen Kulissen aufgeboten, die viel über den Schauplatz erzählen. Man erfährt nicht viel über Mortiers niederländisches Dorf, über Kuczoks polnische Kleinstadt oder über Sanajews Moskau. Sie verschwinden ebenso im Dunkel wie die größere Geschichte einer Generation der heute Ende Dreißigjährigen, die von diesen Kindheiten geprägt worden ist. Die Romane wollen den familiären Mikrokosmos nicht einen Schritt weit verlassen. Bei aller Fürchterlichkeit bleiben sie im engen Kreis der Kindheit gefangen. Kuczok nennt das in seinem Roman die Forderung nach Anwesenheit: Genauso wie die Eltern oder die Großeltern den Kindern die bedingungslose und manchmal grausame Anwesenheit in ihrer Welt auferlegen, so ist diese Erwachsenwelt unabänderlich anwesend im Leben der Kinder. Niemand darf raus, nichts darf sich ändern, alles muss für immer so bleiben, wie es ist.

Liest man die Romane ein wenig gegen den Strich, so scheint in dieser Hoffnungslosigkeit allerdings doch noch einmal die romantische Kindheitsutopie auf: Das Glück der Kindheit besteht dann gerade darin, dass Alternativen zur Anwesenheit in der Hölle nicht einmal denkbar sind. Und romantisch ist daran eben dann auch, dass sich der Bann nur lösen lässt, wenn das Kind zum Erzähler wird, der aus der Hölle berichtet.

Wojciech Kuczok: "Dreckskerl. Eine Antibiographie". Aus dem Polnischen von Gabriele Leupold und Dorota Stroínska. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, 174 Seiten, 19,80 Euro

Erwin Mortier: "Belichtungszeit". Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, 166 Seiten, 19,80 Euro

Pawel Sanajew: "Begrabt mich hinter der Fußleiste". Aus dem Russischen von Natascha Wodin. Verlag Antje Kunstmann, München 2007, 238 Seiten, 17,90 Euro

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