EU: Was Sie schon immer über Europa wissen wollten

Vom Stimmenanteil bis zur Hymne: Die Liste der Streitpunkte ist lang, die der EU-Gipfel abarbeiten muss. Und was ist ein Drei-Hemden-Gipfel?

Was hält die EU in Zukunft zusammen? Sterne auf blauem Grund alleine nicht Bild: dpa

Wenn Ratspräsidentin Angela Merkel Donnerstag Abend in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der anderen 26 EU-Länder zum EU-Gipfel empfängt, will sie gleich zum Thema kommen. Bereits beim Abendessen soll die Frage auf den Tisch, die Chefunterhändler aller Mitgliedsstaaten seit Wochen beschäftigt: Wie können die Strukturen der Union so reformiert werden, dass sie auch mit 27 oder 30 Mitgliedern handlungsfähig bleibt? Merkel hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, noch unter deutscher Regie den Verhandlungsrahmen für die Regierungskonferenz abzustecken. Möglichst viele strittige Punkte sollen schon vorab bei diesem Treffen ausgeräumt werden, das offiziell nur bis Freitag dauert. Den Gästen wurde aber geraten, ein drittes Hemd mitzubringen - weshalb das Treffen seinen Spitznahmen "Three-Shirt-Summit" ("Drei-Hemden-Gipfel") schon weghat.

Wenn Ratspräsidentin Angela Merkel heute Abend in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der anderen 26 EU-Länder zum EU-Gipfel empfängt, will sie gleich zum Thema kommen. Bereits beim Abendessen soll die Frage auf den Tisch, die Chefunterhändler aller Mitgliedsstaaten seit Wochen beschäftigt: Wie können die Strukturen der Union so reformiert werden, dass sie auch mit 27 oder 30 Mitgliedern handlungsfähig bleibt? Merkel hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, noch unter deutscher Regie den Verhandlungsrahmen für die Regierungskonferenz abzustecken. Möglichst viele strittige Punkte sollen schon vorab bei diesem Treffen ausgeräumt werden, das offiziell nur bis Freitag dauert. Den Gästen wurde aber geraten, ein drittes Hemd mitzubringen - weshalb das Treffen seinen Spitznahmen "Three-Shirt-Summit" schon weghat.

Es heißt jetzt "Vertragsreform" statt "Verfassung" - ist das nur ein kosmetisches Problem?

Dem einen oder der anderen wird es schon aufgefallen sein: Auch Ratspräsidentin Angela Merkel spricht nicht länger von einer Verfassung für Europa. Kommissionspräsident Barroso springt ihr bei und nennt das Projekt "Reformvertrag". Das ist ein Signal an Länder wie Großbritannien oder die Niederlande, die Angst davor haben, nationale Souveränität an die EU zu verlieren. Die Botschaft lautet: Wir wollen keinen Superstaat Europa schaffen, sondern nur die Schnitzer ausbessern, die bei den Vertragsreformen von Amsterdam und Nizza gemacht worden sind. Der neue Vertrag wird also nur wenige neue Elemente enthalten und ansonsten versuchen, die Regeln der politischen Zusammenarbeit klarer und transparenter zu machen.

Wird der Verfassungsentwurf nur zusammengestrichen, oder werden auch neue Paragrafen hinzukommen?

Gesprächsgrundlage ist der Verfassungsentwurf, auf den sich ja die damals 25 EU-Regierungen im Oktober 2004 in Rom bereits geeinigt hatten. Würden nun neue Elemente eingebaut, die im ursprünglichen Entwurf gar nicht vorgesehen waren, könnte das die Einigung weiter erschweren. Denn dann würden alle Verhandlungspartner ihre längst begrabenen Sonderwünsche wieder auftischen. Das Poker ginge von vorne los. Angela Merkel hat aber Bereitschaft signalisiert, mit einem neuen Absatz zum Thema Energiesicherheit die polnischen Ängste zu beschwichtigen und Warschau der Solidarität seiner europäischen Nachbarn zu versichern für den Fall, dass Russland wieder einmal den Gashahn zudreht. Ein Kapitel zum Klimawandel soll dem neuesten Modethema Rechnung tragen. Und Merkels eigener Wunsch ist es wohl, noch einmal ausdrücklich zu betonen, dass die Aufnahmefähigkeit Europas für neue Mitglieder ihre Grenzen hat.

Braucht Europa eine Hymne und zwölf Sterne auf blauem Grund?

Beides hat Europa ja schon. Man kann darüber streiten, ob Hymnen und Fahnen im 21. Jahrhundert noch dazu beitragen können, die Identifikation mit einem politischen Projekt zu erhöhen. Wenn aber der Regierungschef eines Mitgliedslandes - in diesem Fall der Niederländer Jan Peter Balkenende - eine seit 1949 als Symbol der europäischen Einigung bekannte Fahne und Beethovens Ode an die Freude nicht im EU-Vertrag erwähnt sehen möchte, um die Holländer nicht weiter gegen das Projekt aufzubringen, dann ist eindeutig etwas schiefgelaufen zwischen den Bürgern und ihrer Europäischen Union. Die zwölf goldenen Sterne auf blauem Grund zierten ursprünglich den Europarat. Erst 1985 übernahm die damals aus zehn Mitgliedsstaaten bestehende EU das Symbol.

Wird der Text auch auf die christlich-jüdischen Wurzeln der Union Bezug nehmen?

Wir erinnern uns: Schon während des Konvents zur EU-Verfassung hatten sich die religiöse und die laizistische Welt leidenschaftlich über die Frage gestritten, ob und wie in der Verfassungs-Präambel die christlich-jüdischen Wurzeln Europas gewürdigt werden sollten. Es blieb bei einem Hinweis auf die "kulturellen, religiösen und humanistischen" Werte Europas. Nun wird nicht einmal diese Formulierung Bestand haben, denn Vertragsänderungen brauchen keine blumige Präambel. Die Kirchen sehen ihre Felle davonschwimmen, da auch das Kapitel über den Dialog mit den Religionsgemeinschaften dem Rotstift zum Opfer fallen dürfte. Ein Trost bleibt: In den zwölf Sternen der Europafahne erkennen Schriftgelehrte nicht nur die zwölf Monate des Jahres oder die zwölf Tierkreiszeichen, sondern eine Textstelle aus der Offenbarung: "Eine Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen."

Was macht die Grundrechtecharta?

Noch so ein Dauerbrenner. Vor sieben Jahren wurde die von einem Grundrechte-Konvent unter Exbundespräsident Roman Herzog ausgearbeitete Zusammenstellung sämtlicher Rechte der Unionsbürger in Nizza feierlich proklamiert. Seither nimmt der Europäische Gerichtshof in seinen Urteilen darauf oft Bezug, obwohl der Text keine Gesetzeskraft hat. Die Charta stärkt die soziale Komponente der EU und betont, dass es nicht nur um einen Binnenmarkt geht, sondern auch um eine Wertegemeinschaft. Vor allem Großbritannien und die Niederlande wehren sich dagegen, die Charta in die EU-Verträge zu überführen, weil sie Rückwirkungen auf nationale Gesetze befürchten. Ausgerechnet der französische Staatspräsident Sarkozy scheint sich dieser Linie nun anzuschließen. Dabei hatten die französische Wähler die EU-Verfassung als zu unsozial abgelehnt. Ein Kompromiss könnte so aussehen, dass die Charta schamhaft in einem Zusatzprotokoll verschwindet, auf das im eigentlichen Text nur ein kleiner Verweis hindeutet.

Erhält die EU eine Rechtspersönlichkeit und wird damit Verhandlungspartner auf internationaler Bühne?

Auch das ist für diejenigen Staaten, die keine Souveränität an die europäische Ebene abgeben wollen, ein heißes Eisen. Es bedeutet, dass die EU im eigenen Namen Verträge abschließen und Organisationen beitreten kann - bisher konnten das nur die Mitgliedsstaaten. Sie mussten zum Beispiel Handelskommissar Peter Mandelson ein detailliertes Mandat geben, damit der sie vor der Welthandelsorganisation vertreten kann. Wenn im Rahmen der Doha-Gespräche neue Angebote auf den Tisch kommen, muss Mandelson zum Hörer greifen und sich von allen 27 Regierungen sagen lassen, zu welchen Zugeständnissen sie bereit sind. Das schwächt Europas Position auf internationalem Parkett und gefällt den Ländern, die keine Souveränität an Brüssel abgeben wollen - allen voran Großbritannien, den Niederlanden, Tschechien und Polen.

Und was wird aus dem europäischen Außenminister?

Würde das Verfassungskapitel über den europäischen Außenministers übernommen, der gleichzeitig im Rat und in der Kommission angesiedelt sein soll, dann könnte der zum Beispiel für die Union bei der Welthandelsorganisation auftreten. Er könnte Energieverhandlungen führen oder bei internationalen Krisengesprächen die Union vertreten und ihr so mehr Gewicht verleihen. Laut Verfassungsentwurf soll ihm ein diplomatischer Dienst zuarbeiten, der sich aus Fachleuten des Ministerrates und der Außenabteilung der Kommission zusammensetzt. Nach dem derzeitigen Stand ist die EU immer durch mindestens drei Politiker vertreten: die EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner, den ständigen Vertreter des Rates, Javier Solana, und den jeweils amtierenden Ratspräsidenten; derzeit ist das der deutsche Außenminister Walter Steinmeier. Ein solches Aufgebot verleiht der Union nicht etwa mehr Gewicht, sondern trägt eher dazu bei, die Partner zu verwirren. Kurz vor Tony Blairs Abreise nach Brüssel hat seine Außenministerin Margaret Beckett erklärt, zu viele Kompetenzen dürfe der neue Außenminister auf keinen Fall bekommen.

Warum lehnt Polen das Konzept der Doppelten Mehrheit ab?

Doppelte Mehrheit - das klingt nach einer weiteren Gemeinheit, um Europas Bürgern das Leben schwer zu machen. Es wäre aber deutlich einfacher als das bisherige Verfahren der qualifizierten Mehrheit. Ein wahrer Albtraum sind neue Vorschläge wie die von Polen geforderte "Quadratwurzel", für die Präsident Kaczynski sogar zu sterben bereit ist. Diese Formel würde das Gewicht der größten Mitgliedsländer zugunsten der mittelgroßen Staaten reduzieren. Bislang hat jedes Land bei Abstimmungen eine festgelegte Stimmenzahl, die in komplizierten Verhandlungen ausgetüftelt wird. Bei der letzten Vertragsreform sicherte sich Frankreich ( 60 Mio. Einwohner) gleich viele Stimmen wie Deutschland (80 Mio. Einwohner). Beide Länder haben derzeit 10 Stimmen, während Polen und Spanien (je 40 Mio. Einwohner) mit je 8 Stimmen relativ besser wegkommen. Das Konzept der Doppelten Mehrheit macht Schluss mit dem Geschacher um Stimmen. Es besagt, dass eine Mehrheit erreicht ist, wenn 55 Prozent der Mitgliedsstaaten zustimmen, die 65 Prozent der EU-Einwohner repräsentieren müssen. Damit wird symbolisch betont, dass die Union ein Zusammenschluss von Nationalstaaten und gleichzeitig von Völkern ist.

Gibt es bald ein Europa der zwei Geschwindigkeiten?

Viel wird in diesen Tagen davon gesprochen, dass eine kleine Gruppe europäischer Staaten sich enger zusammenschließen wird, wenn die Vertragsreform scheitert. Laut Nizza-Vertrag müssen sich mindestens acht Länder zusammenfinden, die in einem Bereich der Gemeinschaftspolitik oder bei der Justiz- und Innenpolitik schneller vorangehen wollen. Eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsstaaten muss dem zustimmen. Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, dass die verstärkte Zusammenarbeit bislang noch kein einziges Mal ausprobiert worden ist. Stattdessen ziehen die Integrationswilligen es vor, völkerrechtliche Verträge wie das Abkommen von Schengen oder den Prümer Vertrag zu schließen. Sie nutzen dafür nicht die Strukturen der Union und sind nicht vom guten Willen der anderen EU-Mitglieder abhängig. Der Nachteil ist, dass die rechtlichen Grundlagen für gemeinschaftliche Politik immer unübersichtlicher werden. Wenn die Vertragsreform scheitert, wird sich der Trend zu neuen Zirkeln außerhalb der EU ganz sicherlich fortsetzen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.