Schlagloch: Entfremdung mit Brecht

Wie nach dem Berliner Zentralabitur friedliche Menschen zu penetranten Eltern wurden.

Ich habe doch nichts gegen Lehrer. Bis vor gut zwei Wochen taten sie mir eher leid. Das liegt an meiner Schulzeit. 32 Schüler gegen einen Lehrer, jede Stunde wieder, das war so unfair. Am meisten tat mir meine Russischlehrerin leid, so eine kleine, eigentlich ganz liebe Frau. Die Russischlehrer hatten es wohl überhaupt am schwersten, und das Ernüchterndste ist: Wir Kinder des DDR-Bildungssystems können immer noch kein Russisch, mit Ausnahme von Angela Merkel natürlich. Schon daran sieht man, dass es wohl nichts werden konnte mit dem Sozialismus.

Doch es gab auch andere Lehrer. Die hatten uns fest in der Hand. Unsere Physiklehrerin warf immer mit dem Schlüsselbund nach uns. Und wie die treffen konnte! Haarscharf vor uns auf die Bank, nie ins Gesicht. Neueste Forschungen zum geistigen Unterschied zwischen Mann und Frau haben herausgefunden, dass dieser Unterschied vor allem darin besteht, dass der Mann besser werfen kann als die Frau. Und treffen. Seit ich das weiß, bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ob unsere Physiklehrerin nicht doch ein Physiklehrer war. Und dass ich immer die Schlechteste im Werfen in der ganzen Klasse war, ist mir gar nicht mehr so egal wie früher. Obwohl es einen zeitig der Einsamkeit des Nichtmassenmenschen aussetzt. Man bleibt immer übrig, weil einen keiner in seiner Mannschaft haben will.

Schon damals habe ich mir gesagt, dass man mit solchen Steinzeitqualifikationen wie Bälle- oder Keulenwerfen nicht durchs Leben kommt. Und ich hatte recht. Wie sehr, erkennt man daran, dass heutige Lehrer nicht mal mehr mit dem Schlüsselbund nach ihren Schülern werfen dürfen, obwohl das jetzt noch nötiger ist als früher. Und deshalb tun - nein taten - Lehrer mir leid. Ich war bis eben auch der Meinung, dass man sie unbedingt vor den Eltern ihrer Schüler schützen müsse. Wer schon einmal bei einer Elternversammlung war, hat gelernt, sich vor Ausführungen zu fürchten, die beispielsweise mit "Also mein Kind " beginnen. Außerdem beträgt das Eltern-Lehrer-Verhältnis schon 1:64. Entlastend wirkt da nur, dass zwei Eltern heute so selten sind und außerdem im Falle simultanen Erscheinens beim Elternabend ungemein peinlich.

Aber von mir aus können die ruhig zu zweit kommen. Ich zähle Lehrer nicht mehr zu den schützenswerten Arten. Und vielleicht sind sie gar nicht ohnmächtig, vielleicht haben sie zu viel Macht. Ich kenne die Deutschlehrerin meines Kindes nicht. Aber nach der Beschreibung stelle ich sie mir ein bisschen vor wie meine Physiklehrerin. Bloß dass sie nicht mit Schlüsselbünden, sondern mit Sätzen wirft. Mit Satzkeulen. Bisschen ruppiges Temperament für eine Deutschlehrerin, dachte ich manchmal, aber der Rilke-Typus hätte an unseren Schulen wohl ohnehin keine Chance. Und außerdem kommen die Abiturienten von heute mit dem "Faust" nur noch in Ausnahmefällen in Berührung, weshalb es schon etwas heuchlerisch ist, die Polen zu tadeln, dass sie Goethe aus dem Lehrplan werfen wollen.

Der größte Stolz von Frau Büttner, sagte meine Tochter, ist, dass noch niemand bei ihr eine Eins im Abitur geschafft hat. Ein merkwürdiger Stolz. Vielleicht hat das Kind da noch insgeheim gehofft, die Erste zu sein. Es hat eine Vierzig-Seiten-Arbeit über den Entfremdungseffekt in Brechts "Mutter Courage und ihre Kinder" geschrieben. Es saß und arbeitete - was in diesem Ausmaß völlig neu und unerwartet war -, und wir dachten: geht doch! Ist schon ganz gut, wenn Kinder das Abitur machen.

Ich gestehe, nicht zu den Wertevermittlern zu gehören. Ich kann das nicht. Wie etwa vermittelt man denn den Wert "Fleiß"? Bei Kindern, die fleißig werden mit ihren Eltern im Rücken, habe ich immer Angst, dass sie alles fallen lassen könnten, wenn einmal niemand mehr in ihrem Rücken steht. Und nun ging das von allein. Beim Abendbrot, wenn wir wieder über den Verfremdungseffekt (unter Brechtianern und Ex-Brechtianern auch kurz V-Effekt genannt) reden mussten, dachten wir manchmal, dass Eltern mit fleißigen Kindern es nicht unbedingt leichter haben. Wie wirkungsvoll auch heute noch der brechtsche Verfremdungseffekt ist, lässt sich daran ermessen, dass die brandenburgische Politikerin Regine Hildebrand von den Medien fast einmütig als "Mutter Courage" des Ostens angetitelt wurde. Das war anerkennend gemeint, nur ist die Mutter Courage - Achtung, Brechtfalle! - eine Frau des Krieges, ein negatives Lehrbeispiel.

Als die Arbeit - im neuen Zentralabiturdeutsch "fünfte Prüfungskomponente" genannt - fertig war, bekamen die Großeltern zu Weihnachten Sonderdrucke und zeigten sich aufrichtig und in wünschenswerter Weise beeindruckt. Das hatten sie ihrer Enkelin nicht zugetraut. Und dann hat sie keine Eins bekommen, sondern eine Fünf. Eine Woche vor der Abiturzeugnisausgabe am Schulaushang zu lesen. Das war der B-Effekt, der Befremdungseffekt. Seitdem versuchen wir gemeinsam im ersten Jahr des Berliner Zentralabiturs eine Verbindung zwischen der Note und der Arbeit herzustellen. Irgendwie ist da keine.

Wir müssen verstehen können, was uns widerfährt, wir müssen uns selbst begleiten können. Anders können wir nicht leben. Und junge Menschen schon gar nicht bei Strafe des E-Effekts. Das ist der Entfremdungseffekt. Der Entfremdungseffekt tritt ein, sobald das Ich und sein Leben sich schon zu weit voneinander entfernt haben, um noch miteinander kommunizieren zu können. Das Kind formulierte diesen Zwiespalt so: Wenn ich meiner Lehrerin glaube, verliere ich doch jeden Maßstab! Es zog seinen Talar zur Abiturfeier nicht an, setzte den Doktorhut nicht auf und nahm sein Abiturzeugnis mit einem hochironischen Lächeln in Empfang. Das war schön und traurig zugleich.

Ich weiß nicht, welche wissenschaftliche Sonderleistungen das Berliner Zentralabitur erwartet. Aber was ich weiß, ist, dass diese Fünfte-Prüfungskomponenten-Arbeit viel, viel besser ist als die Promotion des großen deutschen Dichters und Brecht-Antipoden Gottfried Benn. Allerdings hatte Benn nicht in Germanistik promoviert, sondern über "Die Häufigkeit des Diabetes mellitus im Heer". 19 Seiten Kleinoktav, neun Literaturverweise und Prozentzahlen, die alles Mögliche, nur niemals einhundert ergaben. Befund: Die Beköstigung im Heer habe wohl nichts mit der Entstehung des Diabetes mellitus zu tun. Zensur: befriedigend. Eine würdige Promotion für einen Dichter. Der hatte noch kein Zentralabitur. Bedeutet Zentralabitur, dass sich jeder Lehrer künftig wie sein eigenes Politbüro vorkommen darf? Immerhin ließ sich das Gymnasium zu der Begründung hinreißen, "die Intentionen des Autors Brecht sind nicht verstanden worden". Ja, ich weiß, ich werde jetzt ein richtig penetrantes Elternteil. Aber zentral ist zentral. Zuerst werden wir also die bekanntesten Brecht-Experten dieses Landes um ein Gutachten bitten und dann alles an die Senatsverwaltung für Bildung und Wissenschaft schicken. So weit hat die Schule uns gebracht, uns, die Sanftmütigen und Friedfertigen. Was für ein grusliger E-Effekt.

Kerstin Decker lebt als freie Publizistin in Berlin

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