Kurzkritik: Lindy Annis in der Schwankhalle
: Eine erstaunliche Enzyklopädie

Natürlich ist es ein bisschen kühn, das Ganze „Encylopedia of Tragic Attitudes“ zu nennen. Fünf Performances in einer Stunde können so gut sein, wie sie wollen, umfassend sind sie nicht. Aber so what. Was Lindy Annis am Mittwoch in der Schwankhalle zeigte, war verblüffend, unangestrengt und sehr großartig.

Es ist keine neue Wahrheit, dass die einfachen Ideen oft die besseren sind, aber in der Praxis ist es doch immer wieder bestechend zu sehen: Lindy Annis las von einer Liste rund 20 Gesten der klassischen Tragödie von der Scham bis zum Wegrennen (erschrocken, mit und ohne Verfolger), dazu war auf einer Leinwand zu sehen, wie ein langgliedriger junger Mann sich in die entsprechenden Posen bewegte. Es kann viel Ausdruck in einem erhobenen Arm liegen.

Mit Hilfe dieser Enzyklopädie machte sich Annis dann daran, Passagen aus Millers „Tod eines Handlungsreisenden“, Goethes „Faust“ und Tschechows „Kirschgarten“ zu spielen. Die Texte schlechthin also und es haben sich schon andere mit unterschiedlichem Erfolg daran versucht, ihnen neues oder überhaupt Leben einzuflößen. Dabei kann es sehr einfach sein, dachte man, wenn man hörte, wie Annis als verzweifelter Handlungsreisender „I got so strange thoughts“, vor sich hin murmelte und so tat, als verhülle sie ihr Gesicht. Es wäre unvollständig, nicht noch darauf zu verweisen, dass sie mit ihren als zorniges und lächelndes Gesicht bemalten Knien einen sehr charmanten Tanz gezeigt hat. Ein erstaunlicher Abend. Friederike Gräff