Öffentliches Feiern: Schauer des Rauschs
Die Love Parade ist weg aus Berlin. Als Ersatz empfehlen wir "Dancing in the Streets". Das Buch erzählt die Geschichte des Feierns - von der Antike bis heute.
W ar da nicht mal was? An diesem Wochenende? Dem zweiten Samstag im Juli? Irgendwie kommt es einem schon wie eine Erinnerung aus einer lange versunkenen Zeit vor, dass am zweiten Juli-Wochenende die Love Parade durch Berlin zog. Der letzte Organisator, Rainer Schaller, Besitzer einer Kette von Fitnessstudios, hat nach den üblichen bürokratischen Querelen mit der Stadt Berlin die Konsequenzen gezogen und die Technoparty ins Ruhrgebiet verlegt. Ende August soll sie nun in Essen stattfinden, in den kommenden Jahren abwechselnd in Dortmund, Duisburg und Bochum. Dass die Love Parade noch einmal nach Berlin zurückkehrt, schließt er aus.
Das ist nun wohl das endgültige Ende einer Institution, die wie kaum ein anderes Event das internationale Image des Nachwendezeit-Berlin geprägt hat. Wer die hämischen Berichte im vergangenen Jahr über die "McFit-Parade" oder die gehässigen Kommentare zur endgültigen Absage in der Berliner Lokalpresse gelesen hat, kann den Eindruck gewinnen, dass niemand in der Hauptstadt der Love Parade auch nur eine Träne nachweint. Der Tagesspiegel etwa kommentierte: "Techno ist zwar nicht tot, riecht aber schon recht streng, und es war absehbar, dass die mit diesem Musikstil untrennbar verbundene Parade irgendwann ein Ende haben würde." Dass man in Berlin an jedem Tag der Woche die Auswahl zwischen mehreren Techno-Partys und -Clubnächten hat, die tausende von Billigflieger-Touristen aus aller Welt in die Stadt locken, ist Lokaljournalisten, die so etwas zu Papier bringen, offenbar nicht bekannt.
Doch es ist zu spät, das Für und Wider der Love Parade noch einmal aufzurollen, die Arbeitsplätze, den Imagegewinn und die Touristen aufzulisten, die die Straßenparty Berlin gebracht hat. Auch die inkompetente Organisation der Love-Parade-Begründer oder ihre angebliche Geldgeilheit, die Debatte darüber, ob die Love-Parade nun eine politische Demonstration war oder nicht, die Provinz-Raver mit Kuhfell-Outfit und Deutschlandfahne sowie die fehlenden Dixie-Toiletten gehören der Vergangenheit an. Der "preußische Karneval" (DJ Westbam) ist vorbei.
Wer am kommenden Wochenende trotzdem einen Phantomschmerz fühlt, für den gibt es nun ein Buch, mit dem er sich friedlich in den Tiergarten legen kann. Er kann sich daran freuen, dass dessen Ökosystem in diesem Jahr nicht von Hektolitern Raver-Urin in Gefahr gebracht wird, und er kann den Vögeln lauschen, die nun nicht mehr von donnerndem Techno aus ihren angestammten Revieren verjagt werden. Und er kann sich in aller Ruhe der Lektüre widmen, statt im "Tresor" zu einem der traditionellen Zwölf-Stunden-Sets von Sven Väth zu tanzen. Das richtige Buch für so ein beschauliches Wochenende ist das - bisher leider nur auf Englisch veröffentlichte - "Dancing in the Streets" der US-amerikanischen Publizistin Barbara Ehrenreich. Es erzählt die ebenso lange wie spannende Geschichte des Feierns.
Für mehr als 10.000 Jahre gehörten, so liest man hier, ausschweifende Feste mit Musik und Tanz ebenso zum menschlichen Alltag wie Arbeit, Essen, Kinderkriegen, Krieg und Tod. Man kann sie sehen auf Vasen aus dem antiken Griechenland und auf Reliefs in ägyptischen Pyramiden, auf Wandgemälden aus dem alten Rom und auf den Gemälden von Pieter Brueghel: Menschen, die auf den Straßen feiern. Sie schlagen die Trommeln und blasen die Flöten. Sie sind geschminkt, tragen Masken und Kostüme. Sie halten sich an den Händen und drehen sich im Kreis, sie singen und tanzen, schnell und immer schneller, bis sie einen Zustand ekstatischer Glückseligkeit erreicht haben. Wenn sie nicht mehr können, kehren sie - gleichzeitig erschöpft und gestärkt - in ihr Alltagsleben zurück. Wie ein langer Ringelreihen ziehen sich solche Szenen von Afrika nach Indien, von Europa bis in den Nahen Osten.
Bis ins 14. Jahrhundert waren solche Spektakel selbstverständlicher Teil der menschlichen Existenz - nicht nur in "primitiven Gesellschaften" wie denen der australischen Aborigines, sondern auch in europäischen Bischofsstädten. Im Westen allerdings endet der Spaß mit dem Anbruch der Neuzeit. Mumifizierte Relikte vergangener Exzesse sind in Deutschland etwa das Münchner Oktoberfest oder der Kölner Karneval. Den Teilnehmern der oft spontanen Lustbarkeiten im Mittelalter - als in einigen Gegenden Europas jeder dritte Tag noch ein Feiertag war - würden solcherlei Veranstaltungen freilich nur noch wie harmlose Schrumpfformen ihrer Feste erscheinen: In Utrecht sollen 1278 während eines Ausbruchs der "Tanzmanie" 200 Menschen so lange auf einer Brücke getanzt haben, bis diese einstürzte und die Tänzer in den Fluten des Rheins ertranken.
An so viel Einsatz könnten sich auch die hartgesottensten party people in Clubs wie dem Berliner Berghain, wo eine normale Feiernacht bis mindestens zehn Uhr morgens geht, noch ein Beispiel nehmen.
Für Ehrenreich entspringt das menschliche Bedürfnis, gemeinsam zu rhythmischer Musik zu feiern, der Notwendigkeit, heterogenen Gruppen von Menschen ein Gefühl von communitas zu geben und sie so zu solidarischen Kollektiven zusammenzuschweißen.
Der gemeinsame Tanz nivelliert Hierarchien und sorgt eine begrenzte Zeit lang für eine Erfahrung absoluter Gleichberechtigung: Im Karneval des kolonialen Trinidad und bei den Saturnalien der Römer übernahm die Herrschaft während der Feiern sogar kurzzeitig die Aufgaben des Gesindes. Aber es wurden nicht nur die gesellschaftlichen Normen für kurze Zeit außer Kraft gesetzt - in Irland sollen im 16. Jahrhundert bei Festen Priester auf der Straße mit Schweinen kopuliert haben, bevor sie wieder auf die Kanzel zurückkehrten. Feiern erlaubten ihren Teilnehmern quer durch die Jahrhunderte ein temporäres Gefühl von selbstvergessener Transzendenz.
Das antike Griechenland personifizierte das Bedürfnis nach zeitweiligem Ausscheren aus der profanen Lebenswirklichkeit in dem Party- und Drogengott Dionysos, den Ehrenreich "den ersten Rockstar" nennt. Viele Eigenschaften von Dionysos lebten in frühen Darstellungen von Jesus fort, dessen Evangelium ja bis heute beim Abendmahl körperlich erfahrbar gemacht wird - freilich nur in kleinsten Dosen Wein.
In der Tat scheint die Kirche im mittelalterlichen Europa einer der führenden Clubbetreiber gewesen zu sein: Viele der religiösen Feste wurden offenbar mit Sang, Tanz und Gelärme nicht nur vor, sondern tatsächlich im Gotteshaus ausgetragen. Eine ganze Reihe von Synoden und Konzilen verdammte im 13. Jahrhundert das Tanzen in der Kirche. Den Kirchenoberen waren diese Feiern - die Michail Bachtin in seinem Rabelais-Buch als frühe "Gegenkultur" beschreibt und deren matter Abglanz heute die Kirmes ist - suspekt, weil sie ihre Autorität untergruben und auch mal zu spontanen Volksaufständen führten.
Die allmähliche Abschaffung der Volksfeste des Mittelalters führte in der frühen Neuzeit in Europa zu einer Welle der "Melancholie". Aber es waren nicht nur Klerus und Adel, die auf karnevaleske Ausschweifungen verzichten wollten. Auch Militarismus, Industrialisierung und Kapitalismus brauchten für ihre "Einschließungsmilieus" (Foucault) Fabrik und Kaserne ausgeschlafene und leistungsbereite Arbeiter, keine ausgepowerten Partyleichen mit Kater und wund getanzten Füßen.
Die Modernisierung führte zu einer moralischen Verdammung jeder Art von kollektivem Ausrasten - die "protestantische Ethik" (M. Weber) der Neuzeit sah das Ende von unkontrollierter Feierlust im kollektiven Blutrausch. Diese Haltung spiegelt sich noch in einem Artikel, den Gustav Seibt 1997 in der Berliner Zeitung veröffentlichte: Es sei "bedenklich und auch verwunderlich, dass so gar niemand sich vor dem Massenfest Love Parade gruselt, das ganz ungeniert die Entmächtigung der oberen Gehirnregionen ins Werk setzt und mit der kollektiven Zerstörungslust spielt." Um mit Nietzsche zu sprechen: Der Arme ahnt "freilich nicht, wie leichenfarbig und gespenstisch" solche Bedenken sich ausnehmen, "wenn () das glühende Leben dionysischer Schwärmer vorüberbraust" (aus: "Die Geburt der Tragödie").
Bei der Love Parade ist es übrigens nie zu Akten "kollektiver Zerstörungslust" gekommen - höchstens zu individuellen Zusammenbrüchen wegen Dehydrierung, Hitzschlag oder einer Überdosis Drogen. Wie in Woodstock, wie beim Karneval in Brasilien oder Trinidad gehört es zu den erstaunlichsten Eigenschaften derartiger Festivitäten, dass sie trotz der vielen Teilnehmer und der extremen Begleitumstände (Hitze, laute Musik, Gedrängel) meist friedlich und gewaltfrei verlaufen.
Der Grund dafür liegt für Ehrenreich in dem "kollektiven Vergnügen" und in der spontanen Zuneigung zum Mitmenschen, die die Teilnehmer empfinden. "Warum ist davon so wenig übrig geblieben?", fragt sie immer wieder in ihrem Buch. (Die mangelhafte Historisierung der Love Parade oder der Berliner Clubgeschichte sind ein leuchtendes Beispiel für dieses Phänomen.) In Deutschland dürfte die Instrumentalisierung von Massenspektakeln durch die Nationalsozialisten - denen Ehrenreich ein eigenes Kapitel widmet - der wichtigste Grund dafür sein, warum gemeinsame Bewegungen zu strikten Rhythmen bis heute einen schlechten Ruf haben.
Ein weiterer Grund dafür, dass die Geschichte des Feierns bis heute weniger bekannt und schlechter erforscht ist als die Geschichte der Kriege oder der Arbeit, dürfte in der ephemeren Natur von Feier-Erfahrungen liegen. Am nächsten Morgen ist die Party vorbei, und all die lieben Menschen, mit denen man gestern einvernehmlich gerockt oder geravt hat, sind nur noch schemenhafte Gestalten. Nicht umsonst ist Techno nie die emanzipatorische, gesamtgesellschaftliche Bewegung geworden, die sich viele ihrer Propagandisten erhofft hatten.
Doch vor allem ist das zügellose Tanzen auf den Straßen kaum noch mit dem heutigen Arbeitsethos und dem Zeitgeist einer auf Leistung ausgerichteten Gesellschaft zu vereinbaren - Barbara Ehrenreich hat deren Exzesse in ihren letzten Büchern über die Dienstleistungsgesellschaft und die Working Poor dramatisch beschrieben.
Doch ein paar Relikte der alten Feste findet Ehrenreich noch in der Gegenwart. Beginnend mit den Happenings, Acid Tests und Be-ins der Hippies beobachtet sie eine "Gegenzivilisation", die den Exzess als Antidot zum Elend des Alltags wieder ins Recht setzt. Die Rituale von Sportfans sind ein Beispiel, das sie ausführlich diskutiert, Ereignisse wie der Notting Hill Carnival, die Proteste gegen den G-8-Gipfel in Seattle oder - ja, genau! - die Love Parade andere Beispiele. Die Party, bei der für kurze Zeit die Regeln nicht mehr gelten und alle Menschen Brüder und Schwestern werden, geht also weiter - wenn auch nicht mehr in den Straßen von Berlin.
Barbara Ehrenreich: "Dancing in the Streets. A History of Collective Joy". Holtzbrinck Publishers 2007, 336 Seiten, ca. 20 $
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