: Der Ermüdete
Er hat seine Mutter sterben sehen. Menschen getötet. Er ist mit einem Israeli befreundet. Nun hat Fatah-Kommandeur Zakarija Sbeidi dem Terror abgeschworen. Eine Begegnung.
"Zakarija ist nicht da", sagt der Wachposten. Das ist seltsam, eigentlich müssten sich alle Mitglieder der Al-Aksa-Brigaden in der Mukataa, dem Hauptquartier der palästinensischen Polizei von Dschenin, aufhalten. Ein solch ranghoher Fatah-Kommandeur wie Zakarija Sbeidi allemal. Er und seine Kämpfer hatten dieser Auflage zugestimmt, als sie Mitte Juli das Waffenstillstandsabkommen mit Israel unterzeichneten. Nun also: "Zakarija ist nicht da."
1989: Zakarija Sbeidi ist 14 Jahre alt, als neben ihm sein Freund erschossen wird. Nach der Schule hatten sie in Dschenin Steine auf die israelischen Besatzer geworfen. "Er war auf der Stelle tot", erinnert sich Zakarija, "ich dachte sofort an Rache."
2000: Zakarija Sbeidi gründet mit seinem Cousin Siad al-Amr die Al-Aksa-Brigaden.
Sie stehen der Fatah von Palästinenserpräsident Arafat nahe. Im September beginnt die "Al-Aksa-Intifada". Sie verläuft deutlich blutiger als der frühere Aufstand der Steine.
2007: Zakarija Sbeidi gibt seine Waffen ab. Zuvor unterzeichnet der 32-Jährige eine
Erklärung, dass er künftig auf Terroraktivitäten verzichten will. Im Gegenzug streicht das israelische Militär seinen Namen von der Liste der gezielt zu tötenden Palästinenser.
"Ich komme in einer Stunde", sagt Sbeidi mit rauer Stimme am Handy. Der Kommandant einer der in Israel gefürchtetsten Terrororganisationen liegt also um elf Uhr am Vormittag noch im Bett. Grund für seine Müdigkeit sind die israelischen Soldaten, die in der Nacht wieder mal nach Dschenin vorgerückt sind - trotz des mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas ausgehandelten Waffenstillstands. Das Abkommen besagt auch, dass 178 von Israel gesuchte Terroristen künftig ruhiger schlafen können - vorausgesetzt, sie geben ihre Waffen ab. Sbeidi ist einer davon. Der Führer der Tansim-Milizen hat als einer der Ersten freiwillig die Waffen abgegeben, seit zwei Wochen muss er die gezielten Tötungsaktionen der Israelis nicht mehr fürchten.
Als Zakarija Sbeidi eine Stunde nach dem Telefonat im Haus seines Onkels Dschamal eintrifft, sind seine Augen noch blutunterlaufen, so müde ist er. Freundlich lächelnd setzt sich der 32-Jährige auf einen Plastikstuhl. Der Chef des antiisraelischen Widerstands ist nicht groß, er trägt Jeans, Sportschuhe und ein schwarzes T-Shirt, aus dessen Ärmeln gebräunte, zartgliedrige Arme hervorschauen. Man kann sich vorstellen, wie er seine zwei kleinen Kinder darin hält. Nur die dunklen Narben in seinem Gesicht zeugen von Sbeidis Auftrag: Kampf gegen die Besetzung, gegen israelische Soldaten und Siedler, gegen alle Juden, die hinter den Grenzanlagen zwischen Palästina und Israel leben.
Zakarija, der fließend Hebräisch spricht, gebraucht für seine Narben das Wort "Arbeitsunfall", wenn er erzählt, wie bei der Vorbereitung eines Attentats der Sprengstoff vorzeitig explodierte. Sein Mitkämpfer hatte das Bleirohr, in dem sich die Rakete verfangen hatte, ausgerechnet in Zakarijas Richtung gedreht, als sie explodierte.
Eigentlich sollte sie israelische Soldaten treffen - Al-Aksa-Kommandeur Sbeidi macht keinen Hehl daraus, Attentate nicht nur im besetzten Palästinensergebiet geplant und unterstützt zu haben, sondern auch in Israel. "Sie", er meint die Israelis, "kommen zu uns, also gehen wir auch zu ihnen."
Wie ist aus diesem intelligenten, reflektierten Mann ein solch gnadenloser Feind Israels geworden? Zakarija Sbeidi ist im Muchajem großgeworden, dem Flüchtlingslager von Dschenin. Er war dreizehn, als die prominente israelische Schauspielerin Arna Mer Khamis ins Lager kam. Aus Protest gegen die Besetzung und aus Solidarität mit den palästinensischen Kindern wollte sie hier ein Theaterprojekt aufbauen. Zacharia Sbeidi hat sie erlebt. "Sie hat uns auf der Straße um sich versammelt, bis mein Vater sie in unser Haus bat", erinnert er sich. 1988 wurde das "Freiheits-Theater" eingeweiht, im obersten Stockwerk des Familienhauses, das Zakarijas Vater für die jungen Schauspieler gebaut hatte.
Zakarijas Weltbild verändert sich. Zu hause Musik und Kunst, präsentiert von einer Jüdin - auf der Straße die israelischen Besatzer. Als er 14 Jahre alt ist, sieht er seinen ersten Toten: Ein Mitschüler wird während einer Demonstration von einer Kugel ins Herz getroffen. "Er war auf der Stelle tot", erinnert sich Zakarija, "ich dachte sofort an Rache." Zusammen mit seinem Cousin Siad al-Amr schließt er sich den jungen "Fatah-Schabiba" an - Jahre später werden sie zur Tansim, der Präsident Arafat nahestehenden Fatah-Jugend. Noch aber wirft Zakarija Steine und Molotowcocktails auf die Besatzungssoldaten, Ende 1989 wird er verhaftet.
Während er in Haft sitzt, zieht das Ensemble in größere Räume, ein paar Straßen vom Haus der Sbeidis entfernt. Arna Mer Khamis, die 1993 für ihre Arbeit mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wird, stirbt 1995 an Krebs. Heute leitet Juliano Mer-Khamis, der Sohn von Arna und ihrem muslimischen Mann, das Friedens-Theater. Er und Zakarija begrüßen sich herzlich, als sie sich am Eingang zu dem wiederaufgebauten Theater treffen. Die beiden wirken wie Brüder, wenn auch wie sehr verschiedene: der exzentrische, aparte Juliano und der ernste Zakarija mit dem vernarbten Gesicht.
Das Haus wurde während des Einmarschs der Israelis in Dschenin 2002 von Bulldozern zerstört. Juliano, heute selbst ein prominenter Schauspieler, führt stolz durch die Räume, in denen die Kinder aus dem Lager lernen. Nicht nur schauspielern, auch musizieren. Im Büro stehen neben Computertischen ein Klavier, vier Geigenkoffer und eine Gitarre. Juliano hat eine frische Melone mitgebracht, er schneidet sie in mundgerechte Würfel, Zakarija greift mit spitzen Fingern ein vor Saft tropfendes Stück.
"Das Gefängnis", sagt er, "hat mich gelehrt, wer ich bin und was ich tun muss: Ich kämpfe für die Freiheit der Palästinenser." Viereinhalb Jahre war er hinter Gittern, 1994 kommt er im Rahmen einer Amnestie frei. Für kurze Zeit schließt er sich der "Präventiven Sicherheit", dem Geheimdienst im Westjordanland, an. Als er aber den Befehl erhält, Hamas-Aktivisten zu verhaften, weigert er sich und legt die Uniform wieder ab. "Außerdem", gibt er schließlich zu, "war die Bezahlung schlecht."
Die Al-Aksa-Brigaden werden von der Autonomiebehörde offenbar großzügiger honoriert als die einfachen Polizeieinheiten, regelmäßig fließt Geld aus dem Libanon. "Die Hisbollah schickt uns Geld", sagt Zakarija, weist aber ausdrücklich darauf hin, dass die Hilfe der Schiiten nicht mit Auflagen verbunden sei.
"Sieh dir das mal an", sagt Juliano, der zugehört hat, und zieht eine DVD aus dem Schrank. Es ist der Film "Arnas Kinder", er hat ihn 2002 gedreht. Man sieht Archivbilder seiner Mutter Arna, wie sie, bereits schwer vom Krebs gezeichnet, eine Demonstration durch Dschenin anführt. Und man sieht ihre Arbeit im Theater. Schließlich Siads und Zakarijas Gruppe, die Al-Aksa-Brigade von Dschenin. Juliano hat gefilmt, wie sie und vier andere junge Männer nachts einen Sprengsatz mit einer Zündschnur versehen. Autoscheinwerfer beleuchten die Szenerie: Mit Maschinengewehren Bewaffnete, einer kniet sich auf den Betonboden, um vor dem Einsatz noch einmal zu beten. Dann bezieht die Gruppe Stellung hinter einem Mauervorsprung und eröffnet das Feuer auf eine Militärpatrouille. Schüsse, Motorengebrüll, dann Stille. Der Krieg von Dschenin.
Im Muchajem wird die Geschichte dieses Krieges in die Zeit vor dem "Massaker" und danach sortiert. Manche Leute reden schlicht von "dem Ereignis" oder von "2002". Gemeint sind die Bulldozer, die im März vor fünf Jahren in den schmalen Straßen des Lagers komplette Häuserfronten plattgemacht haben. Die Israelis rechtfertigten die Aktion damit, dass die Gassen zu schmal für ihre Panzer seien. Bei den Gefechten, die sich damals die Al-Aksa-Kämpfer und andere Milizen mit der israelischen Armee lieferten, starben 13 Israelis und 57 Palästinenser.
Eines der Opfer war Zakarijas Mutter. Sie wurde an ihrem Küchenfenster von der Kugel eines Scharfschützen getroffen. Wenig später starb Zakarijas jüngerer Bruder. Schließlich auch Siad, der Freund. Eine der letzten Einstellungen in Julianos Film zeigt den erschossenen Siad, im Krankenhaus, umringt von seiner verzweifelten Mutter, Verwandten und Freunden.
2002 wird zum Wendepunkt in Zakarijas Leben. Er, der durch Arna und ihr Theater viele Israelis, Schauspieler und Friedensaktivisten kennengelernt hatte, unterscheidet nun nicht mehr zwischen Besatzungssoldaten und Juden. "Ich hasste sie alle", sagt er. Für ihn gab es nur noch den bewaffneten Kampf. Er erzählt auch, dass sich nach dem Massaker keiner der Israelis, die in seinem Elternhaus ein und aus gegangen waren, je wieder bei der Familie gemeldet habe. "Die haben von unseren Tellern gegessen", sagt er, noch immer fassungslos darüber, dass ihn all seine israelischen Freunde im Stich gelassen haben. Alle bis auf einen: Juliano.
Dreimal ist Zakarija seither den gezielten Tötungen der Israelis entgangen. Die Soldaten "mit dem Auftrag Exekution" waren hinter ihm her - er gilt als Drahtzieher einer Serie von Terrorattentaten, zu denen er sich teilweise offen bekennt. Auch zu einem Bombenanschlag vor drei Jahren in Tel Aviv, bei dem ein junges Mädchen starb und dreißig Israelis verletzt wurden.
Er redet nicht gern darüber, wie es ist, einen Menschen zu töten. Er zeigt weder Reue noch Genugtuung. "Wenn du einem Soldaten gegenüberstehst, denkst du nicht lange nach", sagt er, "dann ist es entweder er oder ich." Er zieht den Ärmel seines T-Shirts hoch und zeigt eine tiefe Narbe. "Man lebt immer im Tod", sagt er. Auch nach dem Waffenstillstandsabkommen mit Israel gilt: "Sobald sich ein Hubschrauber nähert, bin ich nicht mehr auf der Straße." Drei seiner Brüder sind noch immer in israelischer Haft.
Zum ersten Mal seit Jahren könnte er wieder ruhig schlafen. Aber er traut der Sache nicht. Der Presse gegenüber spricht Kommandeur Zakarija Sbeidi lieber davon, "eine neue Seite in den Beziehungen aufzuschlagen". Aber sollte Israel das Abkommen verletzen, würden auch die Brigaden nicht stillhalten. "Was immer Abu Masen entscheidet, wir stehen hinter ihm", sagt er über Palästinenserpräsident Abbas und tut damit die hämische Behauptung der Hamas ab, die Fatah-Kämpfer würden feige den Schwanz einziehen. "Die Hamas im Westjordanland hat seit zweieinhalb Jahren keine einzige Kugel auf Israelis abgegeben", sagt er. "Wovon reden die eigentlich? Und für wen genau sparen die ihre Munition? Für uns?"
Solange es ruhig bleibt, will der Krieger Sbeidi wieder zum Studenten werden. Er belegt Sozialwissenschaften, mit dem erklärten Ziel, seinen Leuten zu helfen. Schon jetzt arbeitet er am Theater oder hilft, wenn jemand Probleme mit der Autonomiebehörde hat. Ist aus dem gnadenlosen Feind Israels ein friedlicher Bürger von Dschenin geworden?
Juliano lacht. "Ich kann noch immer nicht fassen, dass du deine Waffen abgegeben hast", sagt er und schlägt seinem Freund kräftig auf die Schulter. "Nicht alle", antwortet Zakarija und zieht im Bruchteil einer Sekunde den unter seinem Hemd versteckten Revolver hervor.
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