Kolumne: Die Nachricht Nummer eins

Mindestlohn bei Schlecker oder Tour de France - was wollen mir die Radiosender mit ihren Nachrichten sagen?

In einem kleinen belgischen Ort sollte es am letzten Juliwochenende um das letzte Flugticket zur Leichtathletikweltmeisterschaft in Osaka gehen. Während das gesamte deutsche Team schon nominiert und die Einladungen verschickt waren, gab es für die zwei besten 5.000-Meter-Läufer des Landes einen Aufschub der Nominierungszeit um eine Woche. Zwischen dem Europameister über 10.000 Meter Jan Fitschen und dem deutschen Meister über 5.000 Meter Arne Gabius aus Tübingen sollte die Entscheidung im belgischen Heusden fallen.

Es war eine lange Autofahrt. Der junge Tübinger Athlet hatte die Einladung zur WM vom Verband unmittelbar nach der deutschen Meisterschaft erhalten. Die Flugtage mitsamt der Reiseroute waren festgelegt. Es gab Informationen über Japan, das Klima und darüber, was und wie viel man bei Hitze während und nach dem Training trinken sollte. Auf der langen Fahrt nach Belgien las er alles zweimal. Machte er eine Lesepause, versuchte ich an die schwierige Aufgabe zu erinnern, gab die letzten taktischen Tipps fürs Rennen und betete ihm die vermeintlichen Zwischenzeiten vor. Auf dem Rest der Reise hörte ich Nachrichten. Jede Stunde.

Radionachrichten sind interessant. Ich frage mich oft: Warum kommt gerade diese oder jene Meldung als Nachricht über den Sender? Ist die Meldung wichtig, interessant, oder ist es nur eine Laune des Redakteurs? Nachrichtenmacher sagen, sie hätten ein Gefühl dafür, ob eine Meldung eine "Nachricht" ist. Nachrichten sind deshalb weitgehend eine Gefühlssache. Ebenso ist es ihre Reihenfolge: Was ist die Nachricht Nr. 1, und wer entscheidet, ob diese Nachricht im Radio eine Stunde später immer noch die Nr. 1 ist? Bei langen Autofahrten achte ich darauf, wie lange eine Nachricht in der Sendung bleibt. Wann rutscht die 14-Uhr-Spitzenmeldung im Verlauf des Nachmittags ab, wann fliegt sie aus der Sendung? Und warum? Radionachrichten sind auch deshalb interessant, weil sich über Stunden nichts verändert.

Auf dem Weg nach Heusden beherrschten vier Nachrichten die Redaktion. Gespannt hörte ich nicht mehr nur die Meldung, sondern hörte auf die Zwischentöne. Verbirgt sich in der Aneinanderreihung der Meldungen eine Geschichte? Will mir die Redaktion eine geheime Botschaft mitteilen? Die vier Meldungen waren: Der Chef der West LB Thomas Fischer soll, nachdem er zirka 250 Millionen Euro Verlust zu verantworten hat, eine Ablöse von fünf Millionen Euro erhalten. Pause. Schlecker-Mitarbeiter im Ruhrpott streiken, um einen Mindestlohn von 1.500 Euro durchzusetzen. Pause. China löst Deutschland als Exportweltmeister ab, bekommt aber dennoch Entwicklungshilfe von Deutschland. Pause. Rasmussen fühlt sich wegen seines Ausschlusses von der Tour de France um den Sieg betrogen. Diese vier Meldungen beherrschten den Nachrichtennachmittag.

Der West-LB-Chef blieb lange Meldung Nr. 1. Die Schlecker-Mitarbeiter wurden zeitweise von Rasmussen überholt, was einen inhaltlichen Zusammenhang zum West-LB-Chef aufdrängte. Rasmussen könnte wie Schäfer auf eine Ablöse bestehen. China blieb als Exportweltmeister im Nachrichtenblock drin, die Entwicklungshilfe flog im Verlauf des Nachmittags raus. Nur aus den Nachrichten natürlich, sehr wohl wird zur Stabilisierung der politischen Lage von China weiter Entwicklungshilfe bezahlt. Am späten Nachmittag war der Streik um einen Mindestlohn bei Schlecker keine Meldung mehr wert (wahrscheinlich ein Gefühl der Redaktion), sie flogen raus. Nein, nicht die Schlecker-Mitarbeiter (vielleicht später), sondern zunächst nur die Meldung. Verdrängt durch die Meldung, dass Alberto Condator weiter in Gelb fährt.

Der Ausflug nach Heusden brachte für den Tübinger Läufer eine große Ernüchterung. Jan Fitschen machte das Rennen seines Lebens, Bestzeit, in 13:14,85 Minuten. Gabius stieg aus und war damit raus. Nicht aus dem Nachrichtenblock sondern aus dem Team für die WM. Richtiges Leben eben. Es war eine lange Fahrt nach Hause, und ich hörte keine Nachrichten mehr.

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