Anpassung wird nicht belohnt

Die Türken in Deutschland leben in einer Parallelgesellschaft – und genau das verhindert Krawalle wie in Frankreich. Doch hier wie da fehlt eine integrative soziale Bewegung

Die schwarzköpfigen Verlierer wären die Ersten, die solidarisch für eine bessere Gesellschaft kämpfen

Seit dem unglückseligen 27. Oktober 2005 liegt Muhittin Altun mit schweren Verbrennungen im Krankenhaus. Der 17-jährige türkische Junge ist mit seiner Mutter und den vier Geschwistern erst Anfang der 2000er-Jahre nach Paris gekommen, zu seinem Vater, der seit 1988 dort arbeitet. Natürlich wurde aus der Schule nichts. Doch M’tin, wie Muhittin sich gerne in Paris nennen lässt, fand erst vor kurzem immerhin einen Job in einer Dönerbude.

Während der Krawalle im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois wurde er am 27. Oktober ein Opfer der Polizei, zwei seiner Freunde verbrannten sogar. In jener Nacht hatten die Jungen keine Ausweise dabei – und waren einfach vor der Polizei geflüchtet, um nicht festgenommen zu werden. Oder waren sie, wie ein anonymer Passant der türkischen Hürriyet sagte, gerade dabei gewesen, Diebesgut zu verstecken? M’tin bestreitet das.

Im selben Vorort beklagt heute ein anderer Türke, Sabri Arici, den Totalschaden in seinem Möbelgeschäft mit dem gemütlichen Namen Evim (Mein Heim). Als Arrivierter verurteilt er die Randale. Die türkischen Konservativen finden die Anarchie in Frankreich verwerflich. Der Pariser Botschafter der Türkei sagt, dass von den 400.000 Türken im Land nur ganz wenige „Verirrte“ bei dem Aufstand mitmachten. Ihre allgemein autoritäre Erziehung lässt Türken Anarchie und Gewalt gegen den Staat scheuen.

In Deutschland wäre es zudem unvorstellbar, dass sie ihren geliebten Kiez Kreuzberg in Brand steckten. Nein, die Türken haben noch Hoffnung auf ein besseres Leben und sind nicht verzweifelt. Das hat nichts mit Gott, aber viel mit der „Parallelgesellschaft“ zu tun, die sie sich in Deutschland erfolgreich aufgebaut haben und die ihnen neben einem Heimatgefühl auch ganz flexible Jobs verschafft. Es hat aber auch mit ihrer Transnationalität zu tun, mit dem Gefühl, mit dem einen Fuß in Deutschland und dem anderen in der Türkei zu leben und, wenn es hier brenzlig wird, weggehen zu können. Ihre Familienstrukturen sind besser intakt als in den französischen Banlieues. Die Deutschtürken wollen keine Autos verbrennen, sondern fahren. Auch wenn sie mit einem Bismillah aufs Gaspedal drücken.

Aber ist mit dieser Entwarnung für Deutschland alles erledigt? Was ist mit Gerechtigkeit und Gleichheit, die die Aufständischen fordern? Vor zehn Jahren noch suchten viele junge Einwanderer in Westeuropa das Heil im Koran. Mit den brennenden Autos in Clichy geht diese Phase endgültig vorbei. Der Traum einer nach islamischen Regeln lebenden idealen Gesellschaft hat sich ausgeträumt. Die geläuterten Islamisten in der Türkei machen gerade allen vor, wie man sich von seinen Idealen verabschiedet und mit der neoliberalen Internationalen arrangiert. Das wissen auch die Beurs et Blacks in Frankreich. Zeitgleich mit ihren Aktionen weihte der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan in Köln die Union der Türkischen Demokraten in Europa ein, die Filiale seiner moderat-islamischen, systemkonformen Partei, die Alternative zur radikaleren Milli Görüs. Er riet seinen Landsleuten in Deutschland: Integriert euch, passt euch an!

Das Zauberwort „Integration“ löst aber unsere Probleme nicht mehr. Erstens wird Integration in Westeuropa oft nicht belohnt, das heißt, die Autochthonen wollen ihre Macht nicht teilen. Angesichts knapper werdender Ressourcen bedeutet die Herkunft Aufstieg oder Stagnation. Zweitens sind die Einwanderer aus den ärmeren Staaten oder den ehemaligen Kolonien, so abgekaut dieses Wort auch ist, Rassismus ausgesetzt. Rassismus muss nicht unbedingt in Form des Ku-Klux-Clans auftreten; er bedeutet, nicht als gleichwertig anerkannt und ewig als anders und minderwertig betrachtet zu werden. Wenn er in Frankreich als eine besondere Hochnäsigkeit der Grande Nation auftritt, dann zeigt er sich in Deutschland in einem völkischen Denken, wonach jedes Individuum in ein bestimmtes Volk hineingeboren wird und als Angehöriger dieses Volkes stirbt. Veränderung, Hybridität, das Sowohl-als-auch-Sein haben in diesem Denken keinen Platz. Solange die bestehenden Hierarchien den Ureinwohnern nutzen, wird sich daran nichts ändern. Das wissen auch die Aufständischen von Clichy-sous-Bois.

Nicht Imame, sondern gute, linke Politiker brauchen sie. Säkulare, universell gültige, egalitäre Ideen, an denen sie teilhaben können. Politiker, Gewerkschafter, Intellektuelle, Künstler, die wieder einmal der Gesellschaft helfen, die Welt richtig zu deuten, um sie anschließend zu verändern. Die schwarzköpfigen Verlierer von heute wären die Ersten, die sich hinter sie stellten und die bereit wären, gemeinsam mit anderen solidarisch für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen. Die Verlierer haben nicht zu Unrecht das Gefühl, dass ihre Armut nicht etwa vorübergehend ist, sondern bleibender Natur, denn sie sind für das System nicht mehr zu gebrauchen. Deshalb gehen ja gerade sie auf die Straße, die, die nichts mehr zu verlieren haben. Sie sind verdammt frei, denn „freedom is just another word for nothing left to lose“.

Nur: Gäbe es sie nicht, würden da nicht Weiße in den Banlieues sitzen? Arbeitslosigkeit produziert der Kapitalismus sozusagen als ein Abfallprodukt. Armut und Ignoranz machen jedoch hässlich. Émile Zola hat die Lage der französischen (weißen) Arbeiterklasse in seinen Romanen verewigt, von Friedrich Engels erfuhr man von den Lebensbedingungen der englischen Arbeiterschaft in Manchester. Die Produktion braucht heute immer weniger Arbeiter, dafür mehr Personal für Dienstleistungen. Diese sind jedoch weitgehend in weißer Hand. Denn im Dienstleistungssektor stehen sich Menschen in der Regel physisch gegenüber. Rassismus und Vorurteile kommen hier viel stärker zum Einsatz als am Fließband in der Endmontage. Gesellschaftlicher Aufstieg wird immer schwerer. Einmal arm, immer arm wird zur Regel. So entsteht vorerst ein ethnisches oder religiöses Lumpenproletariat in Westeuropa.

Die Deutschtürken wollen keine Autos verbrennen, sondern mit ihnen fahren

Die interessante Frage ist: Können sich mit dem Abrutschen der jungen Einwanderer Westeuropas die Autochthonen langfristig oben halten und gut versorgen? Ist das Ungeheuer namens globaler Kapitalismus mit dieser Opfergabe zufrieden? Dann können die Innenminister getrost ihre Armee-Einheiten in die Banlieues schicken, die Medien ohne Bedenken weiter über Muslime und andere schimpfen und Lebensumstände als eine Folge von verderbtem Charakter darstellen, und es können brave, unbescholtene Bürger ruhigen Gewissens und ohne Angst ins Bett gehen. Sie selbst brauchen Armut, Diskriminierung und Elend nicht zu befürchten. Die anderen sind selbst schuld, weil sie keinen Schulabschluss haben, den falschen Glauben, die schlechte Moral. Oder?

Was ist aber, wenn das Ungeheuer sich an den Schwarzköpfen nicht satt frisst und auch auf Weiße losgeht? Vielleicht haben es die Ideologen übersehen: Genau damit hat das Ungeheuer längst begonnen.

DILEK ZAPTCIOGLU