Das Schlagloch: Everythings not lost

Wie bloß konnte Kafka seine Romane schreiben, ohne je auch nur mit einem einzigen Callcenter telefoniert zu haben? Wie Telefonanbieter Krisen auslösen.

Unfassbar: Ich hatte eine existenzielle Krise wegen eines Telefonanbieters. Nach Jahren der Wut und Verachtung auf die Telekom bin ich zu Alice gewechselt, die mir sofort eine begeisterte SMS schickte, dass ich sehr bald ganz die ihre sei. Zwischendurch rief mich einer vom Telekom-Callcenter an und warnte dringend vor Alice, weil die schließlich nur auf Platz 16 bei Stiftung Warentest gelandet sei. "Service gleich null", sagte der Junge, aber das konnte mich nicht abschrecken, denn schlimmer als bei der Telekom konnte es wohl kaum kommen. Jedoch in der irrigen Annahme, in Zeiten gnadenlosen Wettbewerbs würden sich alle Konkurrenten tüchtig für den Kunden anstrengen, schlug ich ihm vor, mir ein so günstiges Angebot zu machen, dass ich nicht zu Alice gehe. Er riet mir, einen T-Punkt aufzusuchen und mich dort beraten zu lassen.

Es bestätigte mich in meiner Wechselwilligkeit. Zuerst lief alles prima mit Alice. Bis sie mir eine erste Rechnung von fast 400 Euro schickte, weil sie mir nicht nur jede Minute, die ich im Netz verweilte, angerechnet hatte, sondern dazu noch die Option, unglaublich günstig in den Kosovo, die Republik Moldau oder auch nach Weißrussland telefonieren zu können. Dort kenne ich leider niemanden, den ich anrufen könnte, teilte ich dem Unternehmen ungefähr 15-mal per E-Mail mit, wonach ich 15 neue Auftragsbestätigungen zurückbekam, in denen immer wieder das gleiche Falsche drinstand. Dabei hatte ich nur das Flatrate-Tarifmodell bestellt, womit ich Tag und Nacht online sein, sonntags Mutti und an den Werktagen alle anderen anrufen kann. Für das Ausland sollte zukünftig Skype zuständig sein. So war es am einfachsten, hatte ich mir ausgedacht. Und Einfachheit ist schließlich das Motto des neuen Jahrtausends.

Die Veränderung meines Telefon- und Internet-Zugangs sollte vom einen auf den anderen Tag meinen kompletten Alltag verändern. Plötzlich war ich nur noch damit beschäftigt, berichtigende, genervte, empörte, verzweifelte Mails zu schreiben; vergeblich normale Telefonnummern auf Internetseiten zu suchen, in Hotline-Warteschleifen zu hängen, den Hörer wegen hässlicher Musik weit weg vom Ohr zu halten, aber nicht so weit, dass ich nicht mehr hören würde, falls sich doch noch mal jemand melden sollte, um dann wieder von irgendeinem dummen Kind dumme Ratschläge zu hören. Wie konnte Kafka all diese Romane schreiben, wo er doch noch keine Callcenter kannte?

Ich kann die Gespräche zwischen den Warteschleifenmusiken nicht wiedergeben, weil es mir im Nachhinein geradezu unwahrscheinlich vorkommt, dass ich sie wirklich geführt haben soll, aber ich kann mich noch sehr genau an den Moment erinnern, da ich mutterseelenallein auf meiner Couch saß und furchtbar weinen musste. Keine Liebesgeschichte hat mich auf diese golluminös leere Weise so erschüttert und so endgültig resignieren lassen. Es war nicht die Furcht davor, dass ich dieses Geld hätte bezahlen müssen, sondern die Erkenntnis, dass sich etwas nicht nur in meinem Leben, sondern überhaupt im Leben grundsätzlich verändert hatte. Ich dachte einen Satz - und das ist ungewöhnlich, weil ich sonst gar nicht in Sätzen denke -, ich dachte: "Ich bin dem nicht gewachsen." Und das war etwa so wie die Erkenntnis, dass ich sterblich bin.

Als ich das Wort "Dienstleistungsgesellschaft" und "Passwort" noch nicht kannte, rief ich manchmal beim Postscheckamt an, von dem ich genau wusste, wo es lag und wie es bei Sonnenuntergang trotz all seiner Hässlichkeit leuchten konnte, und irgendeine Frau sagte mir immer, mit wie viel ich im Minus war und wann voraussichtlich das Geld vom Arbeitsamt kommt. Damals kannte ich diesen Gedanken nicht, der mich jetzt jedes Mal beim Anruf einer Hotline befällt.

Ich bin erfahren in Verzweiflung, Angst, Wut und Trauer - aber an diese dumpfe Hoffnungslosigkeit, die erst mit Erfindung der Callcenter in mein Leben getreten ist, will ich mich niemals gewöhnen. Vielleicht fühlt sich ein Herzinfarkt so an, vielleicht die Gewissheit, dass man gerade sich selbst dabei zuguckt, wie man verrückt wird. Über Langstreckenflüge hört man, dass die Seele immer länger als der Körper brauche, um wirklich anzukommen. Bei jeder Callcenter-Begegnung merke ich, dass nichts in mir in der neuen Zeit angekommen ist. Was sind das für Androiden am anderen Ende der Leitung? Nichts, was man jemals über menschliche Kommunikationsformen gelernt hat, gilt im Umgang mit ihnen.

Günter Wallraff hat sich für einen Zeitungsartikel unter sie gemischt und festgestellt, dass sie furchtbar ausgebeutet und schlecht behandelt werden und nur das sagen dürfen, was ihnen aufgetragen wird. Er weilte unter jenen rätselhaften Menschen, die Fremde anrufen und ihnen vorlügen, dass sie etwas gewonnen hätten oder unbedingt etwas kaufen sollten und denen es offenbar nichts ausmacht, wenn ihnen zwei Drittel ihrer telefonischen Gegenüber klarmacht, dass sie sie für ausgesprochen lästig hält. Ich halte so eine Ignoranz für pathologisch. Wenn ich mir also aussuchen darf, für die Rechte von emotional gestörten Callcenter-Mitarbeitern oder mein eigenes Seelenheil zu kämpfen, wähle ich mich und schlage den ausgebeuteten Callcenter-Massen vor, sich einen anderen Job zu suchen, wenn ihnen an menschlicher Anteilnahme gelegen ist. Denn wir sind ja dem allen nicht gewachsen - weder die drinnen noch wir draußen - dem Warten, der Gleichgültigkeit, der Entfremdung, der Phraseologie, den Lügen und diesem Gefühl, geistig und emotional in einer dick gepolsterten Hotline-Gummizelle umherzutaumeln. Mein Telefonanbieterproblem hat sich irgendwann mit Hilfe eines Menschen, der mich anrief und ganze Sätze in Dialogen sprechen konnte, gelöst. Dennoch habe ich beschlossen, mit Rücksicht auf meine Gesundheit nie mehr irgendeine Hotline anzurufen. Die Callcenter sollen eingehen wie ungegossene Primeln. Es ist nicht schade um sie, denn sie sind einfach nur überflüssig. Niemand von denen, die dort arbeiten, weiß, was der Kunde wissen will. Sie wissen nur zwei Dinge: wie sie Zeit schinden, die den Unternehmen Minutengeld zuschaufelt, die uns weismachen wollen, dass wir irre billig telefonieren. Dem Unternehmen sollen sie den Kunden vom Hals halten, der nach dem Kauf der Ware nur noch lästig ist. Eine andere Aufgabe haben Callcenter nicht.

Wir hingegen müssen uns ein neues Zeitbewusstsein zulegen: Alles wird von nun an länger dauern. Wir werden Briefe schreiben und darauf warten, dass uns jemand anruft und uns hilft oder eine Telefonnummer sagt. Und wem nicht einleuchtet, warum das besser sein soll, der muss unbedingt die Nummer der Berliner Verkehrsbetriebe wählen, bei der einem mitgeteilt wird, welches Verkehrsmittel man am günstigsten von A nach B benutzen sollte und wann es fährt. Dort sitzen so seltene Menschen, die exakt das wissen, was man wissen will. Neulich hat mir sogar einer sagen können, auf welchen U-Bahnhöfen man noch Passfotos machen kann. Er hat mich glücklich gestimmt.

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