SPD: Machtkampf mit Umarmungen
Nach dem Hickhack um Änderungen an der Hartz-Reform lobt und drückt SPD-Chef Beck Altkanzler Schröder - die SPD lebt ihre Krisen auf feine Art aus.
Der Auftritt ist wie bestellt für diesen Tag. Kurt Beck, der SPD-Vorsitzende, steht am Donnerstagvormittag im Willy-Brandt-Haus in Berlin und spricht vor der Historischen Kommission seiner Partei über das sozialdemokratische Politikverständnis des 21. Jahrhunderts. Becks Thema ist also das große Ganze, und um nichts weniger geht es in der SPD wieder einmal.
Seit Anfang der Woche streitet die Partei über die Idee ihres Chefs, das Arbeitslosengeld I sechs Monate länger als bisher zu zahlen. Weil sie diesen Streit selbst ins Symbolische treibt, geht es scheinbar um alles: um die Macht in der SPD, Gerhard Schröders Reformerbe, die Agenda 2010, die Regierungsfähigkeit der Partei, das Schicksal ihres Vizekanzlers Franz Müntefering, die Zukunft des amtierenden Parteichefs.
Es geht es um einen Vorschlag des Parteivorsitzenden Kurt Beck. Beck möchte, dass älteren Arbeitslosen wieder mehr Arbeitslosengeld I gezahlt wird. Die jetzige Regelung geht zurück auf die Agenda 2010 und gehört zum Hartz-III-Paket der rot-grünen Arbeitsmarktreformen. Damals war die Bezugsdauer verkürzt worden. Wer seinen Job verliert, erhält nur noch 12 Monate lang sogenanntes Arbeitslosengeld I - danach rutscht er auf Hartz IV (Arbeitslosengeld II) ab. Über 55-Jährige erhalten 18 Monate lang das Arbeitslosengeld I. Beck und weite Teil der SPD wollen diese Bezugsdauer nun ausdehnen: Für über 45-Jährige soll es künftig 18 Monate lang das Arbeitslosengeld I geben, für über 50-Jährige maximal 24 Monate. Ein konkreter Vorschlag dazu soll bis zum SPD-Parteitag Ende Oktober erarbeitet werden. Dass die große Koalition aus dieser Idee jemals ein Gesetz machen wird, ist aber eher zu bezweifeln.
Für so viel Schicksal sieht Beck an diesem Vormittag ganz gut aus. Seine Rede klingt wie immer: ausgeruht, wolkig, umständlich. Zunächst würdigt er die Arbeit der Historischen Kommission. Anschließend referiert er über Godesberg. Erst gegen Ende spricht er darüber, worauf alle Journalisten sehnsüchtig warten: das Arbeitslosengeld I, die Agenda 2010, das große Ganze.
Wobei das Besondere bei Beck gerade darin liegt, dass er das, was fast alle sehen, nicht sieht - oder nicht sehen will. Er sieht keinen Machtkampf in der SPD, keinen Richtungsstreit, keine Auseinandersetzung über Schröders Erbe. Die Agenda 2010? Bezeichnet er als "notwendig und richtig". Die Verlängerung des Arbeitslosengeldes? Ist ein Beispiel dafür, dass man diesen "richtigen Weg" weitergeht, aber "das eine oder andere, was sich zwischenzeitlich als veränderungsnotwendig gezeigt hat, auch verändert". Die Kontroverse in der SPD-Führung? In Becks Augen gibt es keine "prinzipiellen Unterschiede", sondern "99 Prozent Übereinstimmung".
Alles andere sei ein "offener, fair ausgetragener Streit" über Einzelheiten. Der SPD-Chef zeigte sich entschlossen, die Arbeitsmarktkorrekturen durchzusetzen. Der Parteitag Ende Oktober werde entsprechende Beschlüsse fassen. "Diese Entscheidungen werden dann gelten", sagte er. Was andere Sozialdemokraten großmachen, redet Beck klein. Ist das schon die ganze Erklärung des Konflikts?
Ja. Und Nein.
Als Beck seinen Vorschlag mit dem Arbeitslosengeld I auf einem Treffen der Landes- und Bezirksvorsitzenden der SPD am 24. September erläuterte, erntete er einhellige Zustimmung. Im Funktionärskörper der Partei ist die Agenda 2010 nach wie vor unbeliebt, Änderungen daran werden nicht als Bedrohung empfunden, sondern als Rettung für die Partei.
Neben der Rente mit 67 wird gerade das schnelle Abrutschen auf Hartz-IV-Niveau im Falle eines verlorenen Jobs als grobe Ungerechtigkeit empfunden. Viele Sozialdemokraten, unter ihnen der Parteichef, definieren das als "Gerechtigkeitslücke", die geschlossen werden müsse. Deshalb die Idee mit der Verlängerung des Arbeitslosengeldes I - um der SPD-Stammklientel, den Millionen von Arbeitnehmern mit kleinem Einkommen, die Furcht vorm sozialen Abstieg ein wenig zu nehmen.
Zusammen mit weiteren sozialen Erleichterungen soll daraus eine Art "Vier-Punkte-Plan" werden, mit dem der Vorsitzende seine Partei 2009 in den Wahlkampf gegen die Union führen will. Erstens der längere Bezug des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitnehmer. Zweitens Abfederungen bei der Rente mit 67 für Menschen mit körperlich anstrengenden Jobs. Drittens die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes von 7,50 Euro pro Stunde. Viertens klare Regeln für die Leiharbeit.
Wenn man dieses Gesamtpaket in Betracht nimmt, versteht man, warum für Beck der Streit ums Arbeitslosengeld I nichts Prinzipielles hat. Aus dieser Perspektive sind auch die Meinungsverschiedenheiten mit Müntefering nicht so groß. Der Arbeitsminister hingegen sieht gerade in den Veränderungen beim Arbeitslosengeld I einen Bruch mit der Logik der Agenda 2010.
Für Müntefering geht es hierbei auch um die Verteidigung eines Teils seines Lebenswerkes - ohne ihn, den Vorzeigesozi, ohne seinen öffentlichen Lernprozess im Zuge der rot-grünen Reformen hätte Schröder die Agenda 2010 in der SPD nie durchsetzen können. Deshalb widersprach Müntefering seinem Parteichef Anfang der Woche so rabiat. Deshalb empfahl er seiner Partei, sie solle Arbeitsplätze schaffen und sich am Mindestlohn sowie der Hilfe für Familien orientieren - "und im Übrigen die Agenda 2010 lassen". Als am Montag dann auch noch Schröder und der frühere Arbeitsminister Wolfgang Clement Becks Pläne attackierten, erschien das wie eine offene Meuterei der "Agendisten" gegen den SPD-Vorsitzenden.
Wie tief die Zerwürfnisse zwischen den Spitzenleuten wirklich gehen, ob tatsächlich ein Machtkampf zwischen Beck und Müntefering tobt, ob die Sozialdemokraten vor dem Auftritt ihres Altkanzlers auf dem Hamburger Parteitag Angst haben müssen - das bleibt letztlich eine Frage der Spekulation und der Interpretation.
In dieser Hinsicht gab es am Mittwochabend in der Komischen Oper in Berlin für alle Schröder- und Beck-Exegeten ein außerordentliches Schauspiel zu erleben. Der Altkanzler bekam von der Werkstatt Deutschland den "Quadriga"-Preis 2007 verliehen - ausgerechnet für seinen "Mut zur Zäsur", den er mit der Agenda 2010 bewiesen habe. Und die Laudatio auf Gerhard Schröder hielt - ausgerechnet Kurt Beck.
Beck trug eine Nullachtfünfzehn-Rede vor. Er lobte den "lieben Gerhard", würdigte die Agenda 2010 als, na klar, "richtig und notwendig" und erklärte die aktuelle SPD-Politik kurzerhand zur "Weiterentwicklung" dieser Agenda, keinesfalls gedacht als "Abkehr von Reformen der Regierung Schröder".
Und Schröder selbst? Dankte zunächst in seiner ironischen Art, um dann ein paar leise, ernsthafte Sätze zu sagen, die den Festsaal in Stille versetzten. "Lieber Kurt Beck", setzte Schröder an. "Ich weiß um die Verantwortung und Schwierigkeit, Vorsitzender der ältesten Partei Deutschlands zu sein. Ich weiß, wie viel Loyalität man braucht und nicht immer bekommt. Meine hast du - weit über das eine oder andere kontroverse Detail hinaus. Diese Loyalität werde ich gegenüber dem Vorsitzenden meiner Partei niemals aufkündigen." Dann wünschte er Beck "von ganzem Herzen" viel Erfolg. Am Ende umarmten sich beide. Was für ein Machtkampf.
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