Holocaust-Opfer: Frau Koifmans Überlebende

Als bekannt wurde, dass Holocaust-Opfer in Armut leben, bot Israel Betroffenen monatlich 15 Euro an. Gita Koifman hat ein Abkommen ausgehandelt, das Leuten wie Leiser Roll zugutekommt.

Die Einigung: Am 10. Oktober unterzeichnet Israels Regierung ein Abkommen, das sie verpflichtet, verarmten Holocaust-Überlebenden mehr Geld zu zahlen. Ausgehandelt hat das Papier der Verband der KZ- und Gettoüberlebenden, nachdem er gegen teils unwürdige Lebensbedingungen der alten Leute protestiert hatte.

Der Inhalt: Die Regelung umfasst neben sofortigen monatlichen Zahlungen eine Aufstockung der medizinischen und Pflegedienstleistung um 18 Millionen Euro im kommenden Jahr und 36 Millionen Euro im Jahr 2009. Besonders bedürftige Opfer sollen pro Jahr 400 Euro beantragen können.

Wenn Leiser Rolls Freundin ihr Klappbett aufgestellt hat, kann man in dem winzigen Zimmer kaum noch stehen. Trotzdem haben die zehn Quadratmeter Charme. Auf dem Regal stehen zwei Schreibmaschinen, eine deutsche und eine russische, an den Wänden hängen Bilder, man sieht darauf Rolls Familie, seine Freunde. Besonders stolz ist der alte Mann auf seine Enkel, der Junge hat sich in israelischer Uniform fotografieren lassen, das Mädchen im knappen Bikini am Strand. Er und seine ebenfalls über 80-jährige Freundin teilen sich zwei nebeneinanderliegende Zimmerchen im Seniorenheim von Hadera, einer nordisraelischen Kleinstadt.

Roll lebt bescheiden. 270 Euro Wiedergutmachung bekommt er vom deutschen Staat, seit er vor 19 Jahren von der Ukraine nach Israel ausgewandert ist. Rentenansprüche hat er in seiner Wahlheimat nicht, nach Abzug der Miete bleiben ihm nicht einmal 100 Euro zum Leben.

Das wird sich aber ändern, Leiser Roll soll bald mehr Geld bekommen. Am Mittwoch will Israels Regierung ein Abkommen unterzeichnen, das verarmten Holocaust-Überlebenden für ihre letzten Jahre ein Stück Lebensqualität sichern soll. Zu verdanken haben Roll und die anderen Berechtigten das Frauen wie Gita Koifman. Als Vorstandsmitglied beim Verband der KZ- und Gettoüberlebenden hat sie sich für ihre alten Landsleute eingesetzt. Roll kennt Koifman seit seiner Immigration 1989, als sie ihm mit dem Papierkram bei den Anträgen auf Wiedergutmachung geholfen hat.

Sie selbst wird nichts von dieser neuen Regelung haben, dafür geht es ihr finanziell zu gut. Die 68-Jährige engagiert sich aus dem Wissen heraus, was die alten Israelis erlebt haben, aus der Überzeugung, dass zur Würde im Alter auch materielle Sicherheit gehört. Alles, was Gita Koifman aus dieser dunklen Zeit geblieben ist, ist ein Foto ihrer Mutter. Ihre Großmutter hat es 1945 aus einem Berg von Möbeln und Matratzen, Geschirr und Spielzeug, aus dem, was von ihrem geplünderten Haus in Bricani, einer Kleinstadt bei Tschernowitz, übrig war.

Das Foto hat Wind und Regen unbeschadet überstanden, Gita Koifman schiebt es in seine Plastikhülle zurück, weil das Telefon klingelt, schon wieder. "Das geht seit Wochen so", seufzt sie. Dann bittet sie höflich um einen späteren Rückruf. Die Anrufer sind Betroffene, die wissen möchten, worauf sie künftig Anspruch haben werden.

Tatsächlich ist die Vereinbarung über die Wiedergutmachungszahlungen alles andere als leicht verständlich, auch weil die Opfer in verschiedene Kategorien eingeteilt werden. Anspruch haben demnach nur "Überlebende", diejenigen also, die in einem Getto oder Konzentrationslager waren. Nicht berücksichtigt hingegen bleiben "Flüchtlinge", die sich vor den Nazis und deren Kollaborateuren verstecken konnten.

Als im Sommer letzten Jahres öffentlich wurde, dass in Israel jeder dritte Holocaust-Überlebende unter der Armutsgrenze lebt, dass mancher KZ-Überlebende nicht einmal genug Geld hat, um seine Zahnprothese bezahlen zu können, war die Entrüstung groß. Es wurden sogar Fälle von Rentnern bekannt, die bei den Lebensmitteln sparten, um ihre Medikamente bezahlen zu können. Israels Politiker mussten handeln - sie boten jedem Bedürftigen 15 Euro mehr im Monat an. Die Betroffenen waren empört und begannen sich zu organisieren. Anfang August dieses Jahres zog eine Gruppe ehemaliger KZ-Insassen in gestreifter Häftlingskleidung und mit dem gelben Stern an der Brust vor das Haus von Premierminister Ehud Olmert. Die Aktion sorgte international für Schlagzeilen - ausgerechnet in Israel fehlt es Holocaust-Überlebenden am Nötigsten?

Gita Koifman war bei dieser Protestaktion dabei, allerdings nicht in Häftlingskleidung. Den "geschmacklosen Auftritt" ihrer Vereinsmitglieder lehnte sie ab, auch wenn er seinen Zweck erfüllt und den Premierminister dazu gebracht hat, einer höheren Sonderzuwendung zuzustimmen. "Wenn alles so läuft wie vereinbart", sagt Koifman, "können wir zufrieden sein."

Die neue Regelung sieht vor, dass zwei Gruppen der Überlebenden profitieren: 200 Euro monatlich sollen jene 8.000 Holocaust-Opfer bekommen, die keinerlei Wiedergutmachung aus Deutschland bekommen. Die Bundesrepublik nämlich zahlt nur jenen Wiedergutmachung, die entweder länger als sechs Monate im Konzentrationslager oder mehr als 18 Monate im Getto waren. Jenen, deren Leidenszeit kürzer war, will fortan der israelische Staat helfen. Eine zweite Gruppe von rund 10.000 Überlebenden soll ebenfalls künftig Geld vom Staat erhalten: jene, die zwar Wiedergutmachungszahlungen bekommen, aber damit trotzdem unter der Armutsgrenze bleiben. Zu ihnen gehört Leiser Roll.

Für ihn und andere Leidensgefährten in ähnlicher Lage hat Gita den Kampf ausgefochten. Sie selbst war fast drei Jahre im Getto, dafür erhält sie monatlich 270 Euro aus Deutschland. Hinzu kommen 400 Euro aus ihrer in Israel erarbeiteten Rente sowie ein kleiner Betrag von der Nationalversicherung. Damit liegt die Frau, die mit ihrem Mann Michael Anfang der 70er-Jahre nach Israel kam, knapp über dem Mindesteinkommen.

Die Katze namens Pizza streicht energisch mauzend um Michaels Beine, der sich in der Küche Kaffee kocht. Das kinderlose Paar lebt seit ein paar Jahren in einer Eigentumswohnung in der Kleinstadt Kirjat Motzkin, nördlich von Haifa. Alles steht ordentlich und blitzsauber an seinem Platz. Zwei Kunstblumen zieren den Wohnzimmertisch, üppig sind nur die dicken grünen Vorhänge mit Goldborte.

Es fällt Gita Koifman noch heute schwer, über ihre Kindheit zu sprechen. Binnen wenigen Augenblicken wird aus der Person, die im Auftrag des Vereins der Holocaust-Überlebenden rigoros mit dem Premierminister Verträge ausgehandelt hat, eine mit den Tränen ringende, verängstigte Frau. Sie war noch ein Baby, als ihre Familie im Sommer 1941 vertrieben wurde und nach wochenlangem Fußmarsch im Getto Ozarincy ankam. Zwei Jahre war sie alt, als ihre Mutter starb, und sie kann sich erinnern, wie der Vater sie an das Bett der Sterbenden stellte, um sich zu verabschieden. Es ist Gita Koifmans persönliches Trauma. "Ich habe Jahre später meine Tante verblüfft, als ich ihr unser Zimmer im Getto und das Bett meiner Mutter genau beschreiben konnte", sagt sie.

Ansonsten war und ist der Holocaust eher durch die Erzählungen ihrer Verwandten präsent, von Not, Hunger, Angst und Strapazen ist dann die Rede. Und wiewohl sie am eigenen Leib erfahren hat, dass Leid eine sehr persönliche und für jeden anders zu verarbeitende Sache ist, wehrt sie sich vehement gegen die Gleichstellung der Holocaust-"Flüchtlinge" mit den -"Überlebenden". Eher für Letztere setzt sie sich ein, weniger für die, die die Kriegsjahre in neutralen Gebieten, in Verstecken oder im Untergrund überlebt haben und die bis heute auf ihre Anerkennung als Opfer warten. Man könne Leid nicht messen, erklärt sie ihre Haltung, doch "die eingebrannte Nummer am Arm ist mit nichts zu vergleichen". Der Kampf der verarmten Flüchtlinge um mehr Geld dürfe "die Tragödie des Holocausts nicht relativieren".

So sehen das nicht alle. Der Likud-Abgeordnete Juli Edelstein plädiert für die Gleichstellung aller Opfer des deutschen Faschismus. Sein Vater etwa habe zwar das "Glück gehabt", 1941, zwei Tage vor dem Massaker von Babi Jar "den letzten Zug aus Kiew Richtung Kasachstan erwischt zu haben". Aber sei er deshalb kein Opfer? Nicht nach offizieller Lesart - Edelsteins Eltern bekommen keine staatliche Wiedergutmachung.

"Gott sei Dank ist ihnen Auschwitz erspart geblieben", sagt Gita Koifman nur dazu, sie tut Edelsteins Auftritt als "reinen Zynismus" ab. Zwar hatte ihr Verband anfangs über ein Lösungspaket sowohl für die "Überlebenden" als auch die "Flüchtlinge" verhandelt, schnell war aber klar geworden, dass der Staat Israel unmöglich 65.000 Betroffenen Zusatzrenten zahlen kann. Deshalb stimmte der Verband schließlich der separaten Lösung zu. Seither konzentriert sich Koifmans Gruppensolidarität auf die 80.000 Überlebenden, die eher schlecht als recht über die Runden kommen, Leute wie Leiser Roll.

Der frühere Deutschlehrer hat Grauenvolles erlebt. Mit seiner alten Schreibmaschine hat er seine Erinnerungen aufgeschrieben, "Die Katastrophe" steht auf dem Titelblatt. "Die Begleitmannschaft", steht in dem Manuskript, "bemerkte, dass wir David trugen, und forderte, dass wir ihn sofort in das Massengrab werfen sollen". David, Leisers jüngerer Bruder, war bei der Deportation an Lungenentzündung erkrankt und zu schwach, weiterzulaufen. Als der Vater die Wachen bat, den Jungen zu erschießen, um sein Leiden zu beenden, "griffen sie David an den Händen und warfen ihn lebendig ins Grab".

Mit heiserer Stimme erzählt Roll: vom Tod des Bruders, von typhuskranken, sterbenden Juden, von der Folter, die er nach dem Krieg in sowjetischen Gefängnissen erleiden musste. Am Ende seines Lebens war er einfach nur froh, nach Israel gehen zu können. Hier lebt er gern, er beschwert sich nicht über seine Armut, hat nicht einmal einen rechten Überblick, wie viel oder wenig Geld er überhaupt zum Leben hat. Seine Freundin aus dem Altersheim führt den Haushalt, "sie kocht, ich esse", sagt Leiser Roll verschmitzt. Wenn er demnächst mehr Rente bekommt, könnten die Mahlzeiten der beiden reichlicher werden.

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