Sherwin B. Nuland: Denken und joggen

Der Mediziner Sherwin B. Nuland glaubt, dass wir die Herausforderung des Alters gut bewältigen, wenn wir uns nicht aufs "Altenteil" zurückziehen.

Die Menschen hören nicht auf zu spielen, weil sie alt werden, sondern sie werden alt, weil sie aufhören zu spielen.

Oliver Wendell Holmes, Arzt und Schriftsteller (1809-1894)

Obwohl Sigmund Freud dem Menschen in seiner Theorie vom Todestrieb die Tendenz unterstellt, zum anorganischen Zustand zurückkehren zu wollen, ist heutzutage doch eher eine laxe Todesnähe zu verzeichnen. Wir sind viel eher bemüht, den Tod so weit wie möglich von uns fernzuhalten.

Der Buddhismus und auch manche Psychotherapie hingegen empfehlen gerade ein tägliches akzeptierende Todesgelöbnis - für ein gelasseneres und besseres Leben. Schon der Philosoph Michel de Montaigne empfahl im 16. Jahrhundert, sich frühzeitig im Leben mit dem Tod vertraut zu machen, denn das würde die Angst vor dem Sterben lindern. Demnach müssen wir uns den Chirurgen und Professor für Medizingeschichte, Sherwin B. Nuland, als entspannten und furchtlosen Mann vorstellen, da er sich schon vor 14 Jahren dem Leben über das Sterben genähert hat - mit dem einzigartigen Buch "Wie wir sterben. Ein Ende in Würde?".

Wohl kaum jemand kennt so viele Wahrheiten über den Tod wie ein aufmerksamer Mediziner. Nulands Verdienst, den Schriftsteller wie Oliver Sacks, Ruth Rendell oder Doris Lessing zu schätzen wussten, war seine Art, darüber zu schreiben. Härte, Ernst und Klarheit verbanden sich mit echtem Mitgefühl.

Nun geht der 77-Jährige einen weiteren Schritt auf das Leben zu, indem er sich um die letzten Jahre kümmert. In der Welle von Altersliteratur, die uns gerade überrollt, ist seine Auseinandersetzung in aller ihrer amerikanisch ausschweifenden Altersmilde die empfehlenswerteste Lektüre. Ein Grund für den gerontologischen Hype ist sicher die vielbeschworene Alterspyramide. Plötzlich sind wir alle alt. Wobei sich die Grenze, von der an man wirklich alt ist, offenbar immer weiter nach oben verschiebt.

Als Königin Elisabeth II. von Großbritannien im Jahr 1952 ihr Amt antrat, schickte sie genau 255 Untertanen ein Glückwunschtelegramm zu deren 100. Geburtstag. Heute muss sie im Jahr 5.000 Hundertjährige beglückwünschen.

Das 20. Jahrhundert hat der Menschheit einen Zuwachs an Lebenserwartung von 33 Jahren gebracht. Zum Vergleich: Zur Zeit des Römischen Reiches, als der Mensch immerhin schon 40.000 Jahre auf der Erde herumlief, soll die durchschnittliche Lebenserwartung weniger als 30 Jahre betragen haben. Die Medizin geht aber laut Nuland für die menschliche Spezies von einer natürlich zugewiesenen Lebenszeit von etwa 120 Jahren aus. Das lässt Horrorbilder von überfüllten Pflegeheimen voll Hundertjähriger mit überfordertem 90-jährigem Pflegepersonal aufsteigen. Dem widersprechen allerdings Zahlen, nach denen immer weniger Menschen überhaupt in ein Pflegeheim gehen, zumindest in den USA.

Wem übrigens 120 Jahre nicht ausreichen: Nuland widmet nahezu ein ganzes Kapitel dem offenbar ebenso genialen wie umstrittenen Aubrey de Grey, der das Altern als eine Krankheit ansieht, die es zu heilen gilt. De Grey ist ursprünglich Informatiker, und erst seit seiner Heirat mit einer Genetikerin interessiert er sich für Biologie. Mittlerweile genießt er unter den Biogerontologen den Ruf eines futuristischen Theoretikers.

Nuland gesteht zwar eine menschliche Sympathie für den "mad scientist", ist aber ein entschiedener Gegner von dessen Theorien, die er ausgiebig beschreibt. Der 44-jährige de Grey will etwa das Überbevölkerungsproblem durch Verzicht auf Nachwuchs beheben, der mit einer Verjüngungstherapie einhergeht, die unendliches Leben garantiert. Für ihn besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen diese Variante dem Kinderkriegen vorziehen würden.

Nuland dazu: "Noch vor vielen Jahrzehnten dachte ich in meiner Naivität und Unwissenheit, der letztliche Untergang unseres Planeten würde durch eine neutrale Kraft ausgelöst, durch den Zusammenprall mit einem riesigen Meteoriten oder das Erlöschen der Sonne. Später glaubte ich dann, das Ende aller Tage würde durch die Bösartigkeit eines wahnsinnigen Diktators ausgelöst […]. Doch meine Vorstellung hat sich in jüngster Zeit geändert. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass wir, wenn wir denn vernichtet werden, nicht einer neutralen oder bösartigen Macht zum Opfer fallen, sondern es mit einer extrem wohlwollenden Kraft zu tun bekommen werden, deren einzige Motivation ist, uns und unsere Zivilisation zu verbessern." Einem wie de Grey.

Für Nuland ist das Alter eine Herausforderung, die man dank moderner Erkenntnisse ohne weiteres bewältigen kann. "Im Gegensatz zu dem, was früher angenommen wurde, fällt ein größerer Teil des Verlusts an körperlicher Leistungsfähigkeit in die Kategorie, die man als Atrophie durch mangelnde Beanspruchung bezeichnen könnte."

Die Arbeit, Nuland würde sagen: das Überwinden von Widerständen, ob körperlich oder geistig, gehört unbedingt zu einem lebenswerten Alter. Und obwohl er einräumt, dass der Alterungsprozess wie das Leben selbst ein großes Rätsel bleibe und die Wissenschaft viel weniger darüber wisse, als sie vorgebe, sei es doch enorm wichtig, Körper und Geist gleichermaßen zu pflegen und zu warten.

Auch wenn man sein Verhalten an die sich beim Älterwerden verändernden Umstände, wie etwa eine verlängerte Reaktionszeit, anpassen müsse, plädiert Nuland dafür, sich auch nach dem 70.Geburtstag weder mental noch physisch aufs "Altenteil" zurückzuziehen, weil jede Tätigkeit, ob Joggen, Lesen oder Denken, den Alterungsprozess hinauszögert. Oder wie sagte Michel de Montaigne so schön: "In Anbetracht der Hinfälligkeit unsres Leben und der vielen von der Natur ihm gewöhnlich in den Weg gelegten Stolpersteine scheint mir, dass wir keinen so großen Teil hiervon auf die Kindheit, die müßige Jugend und die Lehrjahre verwenden sollten."

Sherwin B. Nuland: "Die Kunst zu altern. Weisheit und Würde der späten Jahre". Aus dem Amerikanischenvon Werner Roller. DVA, München 2007, 336 Seiten, 19,95 €

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